Artikel
"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Informationstechnologie
Die elektronische Datenverarbeitung entstand in Nazideutschland mit den Maschinen von Konrad Zuse, die unter anderem zur Berechnung der Dynamik von Gleitbomben eingesetzt wurden. Nach und nach verbreiteten sich die Dinger und wurden immer kleiner und komplexer. Die Begleitmusik tönte immer gleich: im Dur-Bereich war die Rede vom Entwicklungspotenzial, im Moll-Bereich von der wirtschaftlichen Bedrohung durch die Ausrottung der menschlichen Arbeit.
>> Download
Das haben wir auch heute wieder, einfach noch ein paar Dezibel stärker, und die Dur-Akkorde sind im Moment deutlich leiser als die Moll-Töne. Bei der Einführung des Internet vor dreißig Jahren hielt man die neue Phase der Informationstechnologie für eine Technologie der Befreiung. Nicht nur war die Verbindung zwischen allen Menschen der Erde absehbar, auch der Zugang zum ganzen Wissen der Welt wurde barrierefrei möglich. Wie immer gingen dabei ganze Wirtschaftssektoren unter, während andere neu entstanden. So lösten sich Euphorieschübe über die Möglichkeiten der Vernetzung, über die Ausdehnung der Potenziale der Individuen in ungeahnte Dimensionen, über die Freiheit, welche das Internet versprach munter ab mit depressiven Phasen. Heute sprechen wir nicht von der Freiheit des Internet, sondern von der Perversion dieser Freiheit durch die Entstehung einer Sphäre von Lügen und Unwahrheiten, welche ihrerseits von Fake News und solchen Dingen spricht; für die ungebildete und ungeübte Anwenderschaft stehen heute Wahrheit und ihr Gegenteil auf der gleichen Stufe, wir haben sozusagen formal das ideale Gleichgewicht zwischen These und Antithese erreicht, leben also in der formal perfekten Synthese. Bei der Informationstechnologie beschäftigen uns, also jene Menschen, die sich rational damit befassen oder es versuchen, vor allem die Milliardeninvestitionen in Datencenter; in den Vereinigten Staaten überbieten sich die Unternehmen aus jenem Bereich, den man künstliche Intelligenz nennt, täglich mit neuen Investitionsankündigungen. Die genannten Summen übersteigen mittlerweile das Bruttoinlandprodukt der meisten entwickelten Staaten. Aus der Perspektive des Breitmaulfroschs, zu welchem der normale Mensch angesichts solcher Projekte reduziert wird, kann man da nur sagen: quak, quak, auf Deutsch: das ist einfach Gaga. Da ist viel Dollarluft drin, die bei Gelegenheit abgelassen wird. Der Frosch merkt noch an, dass es eine Variante gibt ohne Luftablassen, das wäre nämlich dann, wenn die Luft bereits in den Summen selber stecken würde; will sagen, vielleicht sind wir bereits an einem Punkt, wo es letztlich keine Rolle mehr spielt, ob ein Unternehmen 20 Milliarden investiert oder 200 Milliarden oder 2 Billionen, auf zwei oder drei Nullen am Schluss kommt es nicht mehr an. Vielleicht; ich weiß es nicht, aber wir haben einen ersten solchen Prozess bekanntlich bereits hinter uns, nämlich die Vervielfachung des Werts der Realwirtschaft durch die Ausweitung der Börsen hin zu Finanzmärkten. Auf den Finanzmärkten schwappt geschätzt das Doppelte an Kapital hin und her, was an realen Werten auf dem Globus existiert. Nach verschiedenen Stolperern und dem gelegentlichen Platzen von Blasen wie der Dotcom-Blase vor 25 Jahren oder der Bankenkrise, die allerdings weitgehend eine nicht digitale Implosion war, präsentiert sich das System momentan recht stabil, was heißt, die Börsen- und Finanzmarktindizes zeigen stetig nach oben, als hätten sie vergessen, dass das Ziffernblatt auf der Uhr rund ist, aber egal. Fantasien ist Wirklichkeit geworden. Die Anstrengungen, jetzt auch noch die Kryptowährungen in diese Finanzmärkte zu integrieren, weisen auf eine weitere intensive Belüftung hin, auf das Einschießen von zusätzlichem Gas in eine Sphäre, die pro Forma mit der Realwirtschaft interagiert, aber de facto mit ihr nichts mehr zu tun hat; gerade die Tollerei mit den Kryptowährungen zeigt dies in der nötigen Deutlichkeit.
Ich will dies nicht stärker kritisieren, als es einem Breitmaulfrosch zusteht. Ich anerkenne den dieser Realität inne wohnenden Witz durchaus. Tausende von Studentinnen der Wirtschaftswissenschaften werden jedes Jahr in ihrem Feld geschlaucht, geschult und ausgebildet und am Schluss in die Welt der Wirtschaftswissenschaften selber, aber auch der Unternehmen und der Finanzmärkte hinausgeblasen, aber die Grundlagen, welche sie sich im Studium aneignen, sind in der Interaktion zwischen Realwirtschaft und Finanzmarkt ihrerseits zu Luft geworden.
Dass die sogenannte künstliche Intelligenz ein gewaltiges Potenzial hat, vor allem dann, wenn sie mit gewaltigen Datenmengen alimentiert wird, ist offensichtlich. Sie erklimmt mit immer neuen Chip- und Rechnerleistungen immer weitere Dimensionen; der kleine Breitmaulfrosch-Philosoph fragt sich, ob beziehungsweise wann auch hier der Umschlag von Quantität in Qualität erfolgt, und er säuft eine Flasche Korn, um im Dusel vielleicht eine Ahnung davon zu erzeugen, was die neue Qualität denn sein könnte. Der Breitmaulfrosch stellt vorderhand nur fest, dass es die Ambition aller KI-Forscherinnen und KI-Unternehmen ist, den Sieg des Computers über den Schachweltmeister auch auf die anderen Sphären der menschlichen Existenz zu übertragen. Möglicherweise, überlegt sich der Breitmaulfrosch und betreibt dabei seinerseits so etwas wie Humor, möglicherweise erklärt dies die tendenziell rückläufige Intelligenz der menschlichen Rasse, mindestens soweit sie sich im öffentlichen Diskurs äußert; sonst wären Erscheinungen wie Donald Trump oder die Santscha Pantscha gar nicht möglich. Umgekehrt spricht der Breitmaulfrosch hier auch nicht von Intelligenz, sondern von Dummheit in verschiedenen Ausprägungen und Steigerungsgraden.
Wenn ich daran erinnere, dass bis vor Kurzem die Welt des Künstlichen den Gegensatz darstellte zur Welt des Natürlichen, dass also bis vor Kurzem alle Erfindungen der Menschen als künstlich galten im Gegensatz zu den Naturprodukten, so habe ich zwar keinen wichtigen Beitrag zur Debatte geleistet, aber doch einen Hinweis darauf, dass wir im Moment davon sprechen, dass die digitalen Kapazitäten in Gegensatz getreten sind zu den geistigen Kapazitäten der Menschen. Dabei sollten sie diese im Prinzip ergänzen, nicht konkurrenzieren, was allerdings nach wie vor möglich bleibt. Bevor dieser Wettkampf, wenn es überhaupt einer ist, definitiv geklärt ist, will ich noch auf den anderen Punkt hinweisen, nämlich dass die vermutete menschliche Intelligenz vermutlich nicht in jenem Ausmaß wirklich intelligent ist oder war, wie man das angenommen hat. Wenn jemand ein gutes Gedächtnis hat, ist das zweifellos kein Schaden, aber intelligent ist es auch nicht; das Wissen kann zur Erzeugung neuer Einsichten benutzt werden oder auch zum Verständnis der Welt, in dieser Wissensverformung liegt die Intelligenz oder auch in der Eröffnung neuer Vorstellungsräume, nicht aber in der Datenspeicherung. Diese, genau diese Frage bleibt offen: ob die vereinigten Computer dieser Welt am Schluss in der Lage sein werden, ihrerseits neue Einsichten zu erzeugen und richtig kreativ zu werden. Wir sehen ja mit den Hilfsmitteln im kreativen Bereich, wie umfassend repetitiv das gängige Kunst- und Kulturschaffen ist, das in der Öffentlichkeit konsumiert wird. Einmal abgesehen davon, sagt der Breitmaulfrosch, dass wir ja schon vor der künstlichen Intelligenz wussten, dass hinter Nena oder Kollegah tatsächlich wenig bis gar keine Intelligenz oder Kreativität steht.
Wie auch immer: Die stets leistungsfähigeren Chips spiegeln und speichern die Welt in Datenform bis in die Tiefen wissenschaftlichen Erinnerns. Eine andere Dimension betrifft die totale Überwachung des menschlichen Individuums. Diese kann heute als abgeschlossen gelten. Nicht unbedingt so, wie es uns das Beispiel Chinas vor Augen führt mit Knöllchen in einem fiktiven Flensburger Zentralregister; es reicht der Nachweis eines in groben Zügen normalen Verhaltens, und schon werden wir als Konsumentinnen so behandelt, wie wir es verdienen. Die totale digitale Kontrolle macht vermutlich nebenbei dem Begriff der Revolution den Garaus, denn eine Revolution könnte sich nur noch gegen die Kontrolle richten, nicht aber gegen die Systeme, welche neben der Kontrolle funktionieren oder meinetwegen dysfunktionieren. Die Revolution und sowieso die Weltrevolution ist kein Konzept mehr für politische Bewegungen; dagegen stehen wir alle vor den Ergebnissen der digitalen Weltrevolution, so etwas gibt es dann tatsächlich noch. Auch hier hat uns die künstliche Intelligenz abgehängt! Dagegen brauchen wir uns nicht mehr mit der Revolution von Graswurzeln und Breitmaulfröschen zu beschäftigen.
Darin liegt auch eine gewisse Freiheit. Vor lauter künstlicher Intelligenz und Dur und Moll geht oft vergessen, dass wir nach wie vor unser normales Leben leben. Die Erzeugung der materiellen Grundlagen, sei es bei den Produkten oder bei den Geldmitteln, um sie zu erwerben, ist weder jetzt noch in absehbarer Zukunft gefährdet. Dass Wirtschaftssektoren an Gewicht verlieren oder verschwinden, ist keine Erfindung der Gegenwart, sondern prägt nicht nur den Kapitalismus, sondern auch frühere Epochen; nehmen wir nur die Hexen-Branche, die irgendwann rund um die Reformation herum ihren Höhepunkt hatte, aber seither zu einem völligen Nischendasein verdammt ist, nachdem sie früher gar nicht existiert hatte, respektive früher gab man den Hexen normale Berufsbezeichnungen wie Naturheilkundlerinnen, Hebammen oder bei den Römern Wahrsagerinnen, alles renommierte und angesehene Tätigkeiten. Der Agrarsektor ist zwar nicht am Aussterben, aber er wird weltweit von Subventionen am Laufen gehalten; dies gilt auch für Dinge wie die Stahlproduktion oder mindestens in China für die Autoindustrie. Der Wirtschaftszweig Politik dagegen wird unterschätzt, obwohl er zuständig ist für die Portionierung der Subventionen, und das ist ein Geschäft, bei dem die Späne fliegen. Darüber gebreitet wird ein immer dünnerer Mantel an politischen Grundsätzen, die gerne auf die abgedroschensten Parolen des letzten und vorletzten Jahrhunderts Bezug nehmen, irgendwo zwischen den Polen soziale Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit, insgesamt also eine löcherige Decke aus sozialdemokratischem Argumentationsstoff; dabei sind die Auseinandersetzungen in den Ministerien und in den zuständigen Gremien in der Europäischen Union gewaltig, sowohl in der Auseinandersetzung selber als auch in den Auswirkungen. Da kommt es auch nicht drauf an, ob so eine Abgeordnete immer die Wahrheit sagt oder vom Morgen bis am Abend immer nüchtern bleibt; so eine Abgeordnete kann auch Mandarin sprechen und eine betriebswirtschaftliche Ausbildung haben wie eure Santscha Pantscha, wenn es der wirklichen, der zugrunde liegenden Wahrheit dient, kann man auch lügen und Quatsch am Laufmeter herauslassen nach Belieben. Das alles soll uns nicht davon abhalten, das Leben zu genießen, in die Bratwürste zu beißen und in die Fleischbrötchen, dass die Kieferknochen knacken. Wir wollen uns trotzdem einigermaßen bemühen, auf dem Laufenden zu bleiben; dagegen das Geschäft des Interpretierens und des Kommentierens, das verschieben wir auf den späteren Nachmittag. Dieses Geschäft sollte tatsächlich nur mit vollem Mund betrieben werden.
Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.
Albert Jörimann
12.08.