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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Kreativität

Habe ich also gelesen, dass am Mittwoch, dem 9. Juli, um 10 Uhr morgens am Amtsgericht Erfurt das Wohn- und Geschäftshaus an der Drei-Quellen-Straße 29 in Erfurt-Hochheim zur Versteigerung gelangt.

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Der Schätzwert beträgt 730'000 Euro für die unterkellerte Liegenschaft, die im Erd­ge­schoss eine Konditorei/Café mit Laden und Gasträumen enthält, im ersten Obergeschoss Personalräume und daneben im ersten und zweiten Obergeschoss Wohnungen, ebenso im Dachgeschoss; in un­mit­tel­barer Nähe an der Poststraße befindet sich der Friseursalon Conny, etwas weiter unten an der Drei-Quellen-Straße die Gärtnerei Gloria und die Drechslerei Kurt Hübner, an der Parallelstraße Am Bache die Glaserei Birnstiel, und am Grünen Weg bietet noch die Travelplanbar Kirsten Erfling ihre Dienste an. Das Haus sieht gut aus und solide, gemauert in rotem Backstein; hätte ich Geld und wohnte ich in Erfurt, ich würde mir einen Kauf überlegen, aber da ich nun einmal international wohne, kommt das für mich nicht in Frage. Schade!

Stattdessen habe ich mir die Zeit genommen, ein Spiel der Frauen-Fußball-Europameisterschaft im Stadion anzuschauen, das mehr oder weniger vor unserer Haustür ausgetragen wurde, nämlich im Stadion Letzigrund in Zürich am 5. Juli, die Partie zwischen Frankreich und England. Spielerisch gesehen erreichte sie nicht das Niveau der Partie zwischen Spanien und Portugal, das ich am Fernsehen verfolgt hatte, wobei die Portugiesinnen ihrerseits nicht das Niveau der Spanierinnen erreichten; diese allerdings zeigten eine beeindruckende Leistung, nicht nur wegen der fünf Tore, sondern vor allem wegen der Spielanlage und wegen der Umsetzung spielerischer Ideen, welche klar erkenntlich in den Köpfen der Frauschaft in Hülle und Fülle vorhanden waren. Das war schon beeindruckend und erinnerte an die Leistungen der spanischen Männer-Nationalmannschaft zu ihren besten Zeiten. Die Engländerinnen und Französinnen dagegen setzten sich deutlich weniger flüssig miteinander auseinander, wenn man das so sagen kann, wobei zu Beginn die Engländerinnen mehrmals zu Abschlussmöglichkeiten im französischen Strafraum kamen, sodass es mir Angst und Bange wurde um die Französinnen; mit meiner Angst wuchs auch meine Erkenntnis, dass ich eigentlich gar nicht neutral bin, sondern mehr mit den Französinnen sympathisierte als mit den Engländerinnen, ohne diese unsympathisch zu empfinden. Die Engländerinnen nutzten eine ihrer Abschlussmöglichkeiten denn logischerweise auch zu einem Tor, das aber aus unerfindlichen Gründen, sprich von der Videoassistentin annulliert wurde wegen eines Offisdes, das man nicht mehr in Zentimetern, sondern in Millimetern abmessen musste, aber was soll’s, das Tor zählte nicht, und von diesem Moment an begannen auch Frankreichs Frauen, Fußball zu spielen, übernahmen das Spieldiktat und erzielten zwei schöne und erst noch gültige Tore. Dass sie ihre Führung in der zweiten Halbzeit nicht ausbauten, hätte sich fast gerächt, denn wiederum etwa zehn Minuten vor Ende der Partie rappelten sich die Engländerinnen auf und setzten die Französinnen gehörig unter Druck, wobei die Französinnen zwischendurch immer wieder gefährliche Konter spielen konnten, die jedoch nicht in einem Abschluss mündeten. Stattdessen gelang Miss Walsh der Anschlusstreffer, und von da an gab es auf dem Platz keine Regeln und kein System mehr, es war einer jener grausam spannenden Momente, die es im Fußball hin und wieder gibt, die Engländerinnen erarbeiteten sich erneut zahlreiche Chancen, sodass die Französinnen am Schluss wirklich Glück hatten, ihren Vorsprung über die Zeit zu retten.

Mit anderen Worten: Ein sehr schönes Spiel, dem vor allem die Hochspannung am Schluss die Krone aufsetzte; es war ein echter Genuss, zu dem auch das gute Wetter und die gute Laune der Zuschauerinnen ihren Beitrag leisteten. Ich muss zugeben, dass ich es lange verpasst habe, die Entwicklung im Frauenfußball zu verfolgen, weil ich sowieso immer damit beschäftigt bin, die Mängel im Spiel der Schweizer Männer zu verarbeiten; so war ich also ziemlich begeistert, als ich zuerst die Spanierinnen am Werk sah und jetzt im Stadion dieses, ich möchte fast sagen: Vorzeigespiel, das vielleicht weniger im spielerischen, aber im Bereich der Auseinandersetzung alles brachte, was man am Fußball liebt, einschließlich der Würze von taktischen und anderweitigen Fouls, ohne die es nun mal nicht geht. Eine gute Erfahrung; und nun beobachte ich auf der Wiese vor dem Schulhaus, das gegenüber unserer Wohnung steht, dass sich die Mädchen mit zuneh­men­dem Selbstbewusstsein an den Spielchen beteiligen, welche die Lieblings-Pausenunterhaltung der Primarschüler und nun zunehmend auch der Primarschülerinnen darstellen. Übrigens, damit dies auch noch erwähnt ist, haben jene Kleinfußballerinnen, die in Clubs trainieren, zum Teil schon im Alter von 10 Jahren technische Fähigkeiten und ein Spielverständnis, von dem unsereins auch zu seinen besten Aktivzeiten nur träumen konnte. Das ist schön zu sehen. Und eben: Die Frauen haben sich definitiv ihren Platz in diesem Universum erobert, nun auch auf dem Pausenplatz.

Damit will ich nicht sagen, dass Fußball das Potenzial hat, sämtliche Konflikte auf der Welt zu beenden, wie dies der ehemalige FIFA-Chef Sepp Blatter einmal angedeutet hat, als er sagte, dass Fußball die Welt zu einem besseren Ort machen könne. Fest steht jedenfalls, dass es sich um ein überall verständliches und überall nach den gleichen Regeln gespieltes Spiel handelt, aus dem sich vor allem die Vereinigten Staaten von Amerika nobel und mit Baseball raus halten, auch wenn dort im Moment die Club-Weltmeisterschaften stattfinden. Das erinnert mich übrigens daran, dass die Mannschaft von Juventus Turin sich nicht entblödete, der Lastwagenhupe einen Besuch abzustatten, worauf diese sich nicht entblödete, die Spieler zu fragen, was sie davon hielten, wenn eine Frau in ihrer Mannschaft spielen würde. Aus dem betretenen Schweigen der Fußballer entrang sich einem Funktionär die Antwort, dass auch Juventus Turin eine sehr starke Frauenmannschaft habe. Dage­gen war nicht die Rede vom Betrugsskandal Mitte der 00-er Jahre, im Rahmen dessen Juventus seine Meistertitel 2004/05 und 2005/06 verloren hatte und in die Liga B zwangsrelegiert wurde. Darin bestand zweifellos die größte Gemeinsamkeit zwischen dem Fußballverein Juventus Turin und der Lastwagenhupe.

Ansonsten nichts neues im Regen, der gegenwärtig die Schäden der Hitzewelle etwas lindert. Die Lastwagenhupe hat den Termin für das Inkrafttreten der Superzölle um ein paar Tage hinausgeschoben; das droht bald zur täglichen Unterhaltung zu werden, vielleicht werden die Intervalle immer kürzer, im Stil von: Die schönen, wunderbaren Zölle treten morgen Morgen um sechs Uhr in Kraft, und um sechs Uhr hupt es: Das Inkrafttreten der Zölle wurde auf 10 Uhr verschoben, und um 10 Uhr: Die schönen, wunderbaren Zölle werden nochmals erhöht auf 500 Prozent, aber sie treten erst um 17 Uhr in Kraft.. Was für ein Theater, was für ein schlechtes Theater vor allem, aber was will man machen. Allenfalls kann man sich noch erheitern am Vorhaben des tatsächlich teilweise geistesgestörten Elon Musk, der eine neue Partei mit dem Namen Amerika gründen will. Immerhin könnten seine Freundinnen in Europa die Anregung aufgreifen und ihre Parteinamen ihrerseits auf den Namen des Landes einschmelzen, Frankreich-Partei, England-Partei, Deutschland-Partei. An der Brücke über die Oder zwischen Frankfurt und Slubice läuft ein Wettbewerb zwischen der deutschen und der polnischen Polizei, welche mehr illegale Einwan­de­re­rin­nen aus dem Nachbarland aufhält und zurückweist. Diese Hitze wird vom aktuellen Sommerregen nicht gelöscht. Es ist, als wäre die Bevölkerung zu schönen Teilen auf Drogen, aber auf schlechten, auf der tödlichen Droge des Nationalismus. Auf die Abhandlung davon, weshalb diese Droge schlecht und tödlich ist, verzichte ich im Moment.

Im Gazastreifen soll ein Waffenstillstand in Kraft treten, der vermutlich bedeutet, dass sämtliche Lieferungen von Hilfsgütern von Panzern durchgeführt werden, welche diese Lebensmittel direkt in die Trümmer hinein schießen. Man muss ja immer etwas auf der Hut sein, dass man nicht gegen den eigenen Willen in antisemitische Klischees verfällt, wenn man über Israel berichtet; aus dem Grunde bezeichne ich vorsichtshalber mal die israelische Regierung selber als antisemitisch, weil sie das Ansehen der jüdischen Religion derart massiv in den Schmutz zieht, dass auch kein Ariel es mehr sauber kriegt, von rein gar nicht zu sprechen. Wenn ich aber wieder höre, dass in Thüringen im Jahr 2024 226 antisemitische Straftaten registriert wurden, womit sicher nur die Spitze der nationalsozialistischen Hetzbrühe erfasst wurde, so ist mir bei dieser Sprachregelung nicht richtig wohl. Anderseits kann es einem auch wirklich nicht wohl sein bei der Aushungerung von 2 Millionen Menschen durch den angeblich jüdischen Staat Israel. Das ist eben nicht jüdisch, vielleicht ist es auch nicht antisemitisch, aber es ist zutiefst unmenschlich, und wenn solch unmenschliche Taten unter dem Zeichen des Judentums vollzogen werden, so ist dies genauso antisemitisch wie jene Provokationen, mit denen die historischen Nazis ihre eigenen Verbrechen motivierten. So möchte ich das verstanden wissen. Dass daneben die ultraorthodoxen Juden im Kern vom gleichen Kaliber sind wie die Fanatiker von Al Kaida oder der harte Kern der US-amerikanischen Evangelikalen, ist ganz offensichtlich und braucht uns weiter nicht zu interessieren.

Selbstverständlich bilden auch Spiele von Nationalmannschaften im Fußball immer eine will­kom­me­ne Gelegenheit, sich mit dem Charakter der gesamten Nation zu beschäftigen, in meinem Fall und am letzten Samstag eben mit Frankreich und Großbritannien. Es ist mir allerdings nicht so wahnsinnig viel Neues eingefallen, außer vielleicht, dass in Frankreich eine Tendenz des inneren Zerfalls zu beobachten ist, welche per Saldo nur noch vom Kleid der Nationalflagge zusammen gehalten wird. Damit meine ich nicht die dem Kapitalismus inne wohnende Spaltung in Werktätige und Kapitalistinnen, sondern das anhaltende Gefühl, zu kurz gekommen zu sein im Leben und in der Gesellschaft. An diesem Gefühl ändert dann der Sieg der Nationalmannschaft nicht wirklich viel. Der gleiche Eindruck der Benachteiligung befeuert auch die Rechtsnationalisten in England, die sich ideologisch auf ein von der Zeit entwurzeltes Proletariat stützen, das auch in Frankreich, Belgien und selbstverständlich auch in Deutschland existiert. In Frankreich fetzen sich aber auch die Linken untereinander, sodass mir schon länger die Lust vergangen ist, allfällige Partei­pro­gram­me inhaltlich zu prüfen. Da mag drin stehen, was will – in der Praxis führt das alles ins Nirwana. Wie sich auch bei den anderen Politikerinnen zeigt. Erinnert sich zum Beispiel noch jemand daran, dass der aktuelle Ministerpräsident Bayrou vor fünfzehn Jahren ein glühender Verfechter eines bedingungslosen Grundeinkommens war? – Naja, geglüht hat er wohl nicht, aber für das Grundeinkommen war er eben doch.



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Albert Jörimann
08.07.

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