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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Philipp Tingler

Auf die Frage, wie sich die aktuelle Wahrnehmung des eigenen Körpers von früheren Zeiten unterscheide, antwortet der Filofof Klaus-Johann Schlotterding: «Um zu verstehen, wie wir heute unseren Körper wahrnehmen, muss man etwas zurückgehen.» Dann erzählt er etwas über einen weitgehend unerforschten Indianerstamm am Amazonas, der keine helfende Empathie für Kranke oder Schwache habe. «Das ist der Anfang der Geschichte, wie ich sie sehe.»

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Darauf folgt die Frage «Ist die Fähigkeit zu Mitgefühl nicht ein wunderbarer zivilisatorischer Fortschritt?» Und jetzt lautet die Antwort: «Der Preis dieses Fortschritts ist wahrscheinlich, dass man der Dekadenz zumindest den kleinen Finger reichen muss. Der Körper in der Moderne ist ein seltsames Wesen.» Mit anderen Worten: Die Fähigkeit zum Mitgefühl birgt in sich die Gefahr der Dekadenz, indem der Körper in der Moderne ein seltsames Wesen ist? – Etwas weiter unten kommt die Rede auf den «schutzlosen Menschen», der nichts habe außer dem nackten Leben, also seinen verletzlichen Körper, und die Frage an Schlottermann lautet: «Wenn ich nichts mehr habe, keine Rechte und kein Eigentum, gehört mir dann wenigstens mein Körper?» – Einmal abgesehen, dass ich bei solchen Fragen jeweils die intellektuelle Integrität des Fragenden, hier von einem Peter Laudenbach, in Frage stellen muss, wird Schlotterkunz ihr dann sogar noch gerecht. «Es war immer schon naiv zu glauben, dass man sich selbst gehört. Das gilt erst recht für den Besitz des eigenen Körpers (also einer in vieler Hinsicht wertvollen Ressource). Sich selbst gehörten nach der antiken Auffassung nur frei geborene Menschen, und das war nicht die Mehrheit.» Und dann gehts zur Schlussfolgerung: «Der Ursprung unserer Freiheit liegt darin, dass wir alle entlaufene Sklaven sind. Als solche sind wir in der alten Rechtsauffassung Kriminelle, die etwas geraubt haben, was ihnen nicht gehört, ihren Körper.»

Ich habe es mir bisher entraten, die Texte von Peter Sloterdijk zu lesen, da mir die Bericht­er­stat­tung, namentlich über sein Hauptwerk zur zynischen Vernunft, welche per Definition niemals zynisch sein kann, sondern immer nur rational, aber wie auch immer: Die Berichterstattung darüber reichte mir vollauf; anhand von Interviews wie diesem im anthroposophischen Wirtschaftsmagazin Brand eins in der August-Ausgabe dieses Jahres sehe ich mich in meinem Vorurteil integral bestätigt. Ich muss zugeben, für jemanden, die oder der nicht genau zuhört, tönt das natürlich lustig und schön, «Der Ursprung unserer Freiheit liegt darin, dass wir alle entlaufene Sklaven sind», hahaha, wie originell, aber wer auch nur ein halbes kritisches Auge auf den Gehalt wirft, der sieht sofort, was für ein Mords-Unsinn aus dem Mann herausquillt. Wir sind keine entlaufenen Sklaven, auch unsere Vorfahren nicht, Freiheit und Versklavung wogt im Lauf der Geschichte und der Völkerwanderungen von einem gewissen Zeitpunkt an hin und her und ebbt dann irgendwann mal ab, aber für die Herausbildung der menschlichen Gesellschaft spielen sie am Anfang keine Rolle und anschließend bei der Ausbildung der bürgerlichen Freiheiten ebenso wenig. Es ist einfach nur Stuss. Ähnlich vorher, wo das Schlotterhirn gefragt wird, ob es sich beim Gemurmel der makel­losen Körper untereinander in der Werbung um einen kommerziellen Appell an den Narzissmus handle, den eigenen Körper zu bewundern. «Wenn heute massenhaft Leute danach streben, Maßnahmen zu ergreifen, um sich selber besser zu gefallen», antwortet unser Peter, «so funktioniert dieser Narzissmus etwas anders als im antiken Mythos.» Allerdings hatte Kollege Laudenbach auch nicht nach dem antiken Mythos gefragt, sondern nach der aktuellen Verherrlichung des eigenen Körpers. Immerhin bietet sich Sloterdijk jetzt die Möglichkeit, darauf hinzuweisen, dass die Men­schen der griechischen Antike nur sehr eingeschränkt Spiegel zur Verfügung hatten. Zitat: «Sie brauchten Wasser, um das eigene Gesicht zu sehen. Aber wo findet man in griechischen Gebirgen schon klares, stillstehendes Wasser?» – Das ist das klassische Sloterdijksche Verfahren, nehme ich mal an, auf jeden Fall hier im Interview ist es so: Die Antwort auf die Frage formuliert zuerst die Frage zu etwas völlig Wesensfremdem um und handelt dies dann als Antwort ab, mit der Option, am Schluss einen paradoxen Bogen zurück zur Frage zu schlagen und so besonders geistreich zu erscheinen. Seine wichtigster Theaterfundus scheint die erwähnte griechische Antike zu sein, von der er weiß, dass es im antiken Griechenland keine Spiegel gab, auch wenn in Mesopotamien schon 3000 vor Christus und damit 2000 Jahre vor dem antiken Griechenland Bronzespiegel hergestellt wurden. Aber es muss so sein, dass der alte Grieche sich selber nur im still stehenden Wasser betrachten konnte, sonst wäre der nächste Teil der Antwort nicht möglich: «Als Narziss sein Gesicht im Wasser sieht, glaubt er, das sei ein anderer» – eben, weil er keine Spiegel kennt. «Und nach diesem fremden Gegenüber streckt er die Arme aus. Die Narzissmus-Theorie aus der Psychoanalyse hat also offenkundig einige undeutliche Stellen.» – Das mag sie haben, aber dass sie am Vorbild der griechischen Sage krankt, welche sie zum einzigen Zwecke des Vergleichs und der Bezeichnung und keineswegs etwa der Altertums- und Sagenforschung herbeizieht, das trifft eindeutig nicht zu.

«Und weshalb schauen wir dann so oft in den Spiegel?», fragt Peter Laudenbach weiter. «Schon ein Kleinkind erkennt sich selbst mit Freude im Spiegelbild», antwortet Peter Sloterdijk, wobei der neutrale Kleinkinderforscher anfügt: von einem gewissen Alter an, während es in der ersten Zeit sich selber anerkannterweise überhaupt nicht erkennt. Aber weiter in der Antwort: «Wenn wir uns als Erwachsene am eigenen Anblick laben, hat das vor allem damit zu tun, dass im Spiegelbild eine Gestalt mit klar umrissener Silhouette auftritt. Sie wirkt im Normalfall kein bisschen hilflos und zerrissen, so wie wir uns manchmal von innen erleben. Wenn Sie sich total kaputt fühlen, sehen Sie im Spiegel bei Bedarf, dass Sie nicht halb so desolat und zerstört wirken, wie Sie sich vorkommen.» Ich weiß nicht, wie es Peter Sloterdijk mit dem eigenen Spiegelbild geht – offenbar eben genau so, er sieht im Spiegel besser aus als befürchtet –, aber mir kommt da der alte Witz in den Sinn, wenn ein Mann am Morgen vor den Spiegel tritt und sagt: «Ich weiß zwar nicht, wer du bist, aber ich rasier dich jetzt trotzdem.» Bei Frauen funktioniert der Witz ebenfalls, dann einfach mit Schminke anstelle des Rasierapparates. Wo das ganze Gelaber aber mit Sicherheit nicht funktioniert, ist der Bevölkerungsteil mit dem größten Spiegel-Konsum, nämlich die Jugend. Dementsprechend die nächste Frage von Peter Laudenbach: «Sind Selfies die Fortsetzung dieses beruhigenden Blicks in den Spiegel mit technischen Mitteln?» – Und erneut konstruiert Sloterdijk eine völlig themenfremde Antwort: «Der Mensch ist seit jeher ein Wesen, das im Bewusstsein lebt, gesehen zu werden», das Verhältnis von Subjekt zu Objekt im Spiegel hat sich verflüchtigt in ein anderes Thema: «Der aufrechte Gang kann alle möglichen Funktionen haben, aber der Tarnung dient er sicher nicht. Ein Tier, das aufrecht geht, besitzt eine gewisse Theatralität und will offenbar gesehen werden.» Soviel also zum Selfie.

Aber was soll's. Hauptsache, das Sloterdijk-Zitat «Es war immer schon naiv zu glauben, dass man sich selbst gehört», ziert die Titelseite von brand eins, und wenn man mal den Sloterdijk weglässt, könnte man sich darüber den einen oder anderen Gedanken machen, indem längst bekannt ist, dass das Individuum durchaus nicht so individuell ist, wie es sich selber gerne möchte – und wenn auch die Frage nach dem Selbstbesitz als juristische Spitzfindigkeit auftritt, so dreht sie sich doch um die Souveränität einer und eines jeden Einzelnen, und dazu kann man durchaus unterschiedliche Antworten formulieren. Man braucht dazu durchaus nicht Prometheus herbeizuziehen, dessen Leber, wie man heute medizinaltechnisch herausgefunden hat, durchaus nicht immer nachwuchs, und so weiter und so fort. Man kann einfach sagen, dass das moderne Individuum in enormem Umfang verfasst ist durch die Gesellschaft, in welcher es sich befindet, einerseits durch die Umstände der Gesamtgesellschaft, ob sie also reich ist oder nicht und halbwegs auf sozialen Ausgleich und soziale Gerechtigkeit gepolt oder nicht, und anderseits durch das Umfeld, in welchem sich das Individuum bewegt beziehungsweise gezwungen ist sich zu bewegen – denn eine richtige Freiheit der Wahl des eigenen Umfeldes haben nur die Wenigsten, und die sind meistens reich und haben kein Interesse daran, ein anderes als ein reiches Umfeld zu wählen. So etwas kann man sagen, ohne dabei rot zu werden, und da erscheint mir die Frage, ob man unter solchen Umständen sich selber gehört oder nicht, von ausgesprochen sekundärer Bedeutung.

Wie gesagt: Was soll's, auch das brand eins bemüht sich hin und wieder um einen philosophischen Anstrich, wofür sich übrigens auch Menschen wie Philipp Tingler eignen, welcher laut Wikipedia Ökonomie und Philosophie an der Hochschule St. Gallen, an der London School of Economics und an der Universität Zürich studiert hat und damit für einen Literaten eigentlich deutlich zuviel, wobei ich zugeben muss, dass ich von ihm wie von Peter Sloterdijk noch nichts gelesen hatte; was ich nun aber umgehend korrigierte, nicht in Form eines Interviews, von denen ich in letzter Zeit tatsächlich auch ein paar in Ausschnitten gesehen hatte, denn Philipp Tingler ist recht präsent in den Medien beziehungsweise in deren Kultur-, nicht in ihrem Wirtschaftsteil, nein, ich las eine Leseprobe aus «Schöne Seelen», und meiner Treu: Das ist gar nicht schlecht, was Philipp Tingler da schreibt, es ist gutes Mittelmaß, etwas grotesk und mit einer Tendenz zum Manierierten; die erste in der Leseprobe auftauchende Figur heißt zum Beispiel Millvina Van Runkle, ein innerlicher Schenkelklopfer, ihre Freundin am Krankenbett Gwendolyne Rosenstock. Was heißt übrigens Krankenbett – es ist Millvinas Todesbett, und ihre erste Frage zur Glukose-Infusion ist «Werde ich davon fett?» – Wobei dieses Thema nach einem kurzen Exkurs in die Damen der High Society fallen gelassen wird. Immerhin kann ich das Ende der Leseprobe hier gleich zum Besten geben, weil es vermutlich das ganze Buch und seine literarische und gesellschaftliche Relevanz recht gut wiedergibt:

«Damit fiel Millvina zurück in die Porthault-Kissen, als sei nun endgültig das Leben aus ihr gewichen, mit weißem Gesicht und kalter Haut und einem Ausdruck profunder Ermattung. Ermattung eigentlich nicht aus Kampf und Müdigkeit, sondern purem Überdruss. Millvina Van Runkle verschied aus Überdruss, diesem Todfeind einer geistreichen kleinen Person, zu Tode gelangweilt, weil sie von einem Dasein genug hatte, das ihr jeden Tag alles zu Füßen gelegt und ihr nun nichts mehr bieten konnte. Doch bevor sie ging, kam sie noch einmal zurück, blickte Oskar aus halb geschlossenen Augen an und sah auf einmal – zum ersten Mal überhaupt – ganz sanft und beinahe feenhaft aus, als sie mit glasklarer Stimme konstatierte: «Wenigstens sterbe ich reich!»


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Albert Jörimann
10.08.2021

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