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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Die Vulva

Was höre ich da: Das Fraunhofer-Institut beziehungsweise die Fraunhofer-Gesellschaft haben letzte Woche zusammen mit IBM den, je nach Quelle ersten Quantencomputer oder den leistungs­stärks­ten Quantencomputer Europas vorgestellt? Was ist denn das jetzt wieder für ein Schlenker in eurer Industriepolitik?

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Von unseren neutralen Alpengipfeln herunter glaubten wir Deutschland untrennbar verbunden, sozusagen verleimt mit der untergehenden Automobilindustrie, an oberster Stelle ver­tre­ten durch die Super-Kopfnuss und Verkehrsminister Andi Scheuer, und jetzt plötzlich das? Ein Quantencomputer? Vielleicht mit der Zeit doch noch andere Digitallösungen als den Ausbau des automobilen Innenraums zum 100%-ig sicheren Absaugen sämtlicher Daten der Bewohnenden des Fahrzeuges, von der Körpertemperatur über die Musikkanäle bis zur gepflegten Bord-Unterhaltung unter den Fahrgästen? Dass nämlich daneben nichts stattfindet, darüber hat uns Corona ausreichend informiert, will sagen, dass die Digitalisierung im öffentlichen Raum, von der Amtsstube bis hinein in die Schulen, noch auf dem Stand von 1993 steckt. Und jetzt plötzlich ein Quantensprung zum Quantencomputing? Wenn das mal bloß nicht wieder eine dieser Presse­meldungen ist, für welche in den letzten Monaten Jens Spahn bekannt geworden ist!

Nein, selbstverständlich weiß man auch hier in der Schweiz, dass in Deutschland sehr viele aus­ge­zeich­nete Fachkräfte in modernen Technologien ausgebildet werden, weshalb, weil ein schönes Teil von ihnen es vorzieht, eine Arbeit in unserem Kleinstaat zu suchen, weil die Angebote in eurem 80-Millionen-Großraumbüro nicht so toll sind. Aus neutraler Sicht möchte man sich wünschen, dass sich dies möglichst rasch zum Guten ändert, das heißt, dass in eurem Land – und übrigens nicht nur dort, sondern mehr oder weniger überall auf der Welt – immer mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für immer besser ausgebildete und durchaus auch gut bezahlte Fachkräfte entstehen; denn im Ge­gen­satz zu einer weit verbreiteten Volksmeinung liegt die Zukunft nicht in der Abschottung von Arbeits- und Entwicklungs-Märkten, sondern in einem möglichst produktiven, durchaus auch kom­petitiven Miteinander. Das ist eines der wesentlichen Instrumente, mit welchen man sich eine Zukunft bastelt, im Fall. Insofern Glück­wunsch!, und sorgt bloß dafür, dass dieser Fraunhofer-IBM-Quantencomputer nicht ein Einzelfall bleibt, der schon bald wegen mangelnder Verwendung außerhalb der Kommunikations- und Propagandazwecke wieder einrostet.

Unter uns gesagt verstehe ich nicht besonders viel von Quantencomputern, ich gehe davon aus, dass es sich um submolekulare Prozesse handelt und nicht einfach um einen Quantensprung bei der Rechenleistung, aber wie auch immer: Hier dringt mal eine Meldung aus dem sonst weitgehend unsichtbaren Bereich der Anwendung immer verrückterer neuer Erkenntnisse an die Oberfläche der Öffentlichkeit, und ich benutze die Gelegenheit, um mich vor allem vor letzterer zu verneigen, also vor der Umsetzung immer neuer Erkenntnisse in technische und produktive Wirklichkeit, die unterdessen ein Ausmaß angenommen hat, dass es schon bald eine ganze Generation braucht, um es nur schon zu erfassen. Respektive: In der sozialen Praxis wird es dann eher so aussehen, dass sich die meisten Menschen gar nicht dafür interessieren, welche Verfahren unterdessen in ihrem Alltag wirksam sind, und je weniger sie davon wissen, desto lauter können sie in den sozialen Netzwerken die Vergangenheit zum Leitbild für die Zukunft erklären und vor allem überall dort Verschwö­run­gen wittern, wo sie in Tat und Wahrheit schon längst Spielfiguren der Verfahrenstechnik geworden sind. Das Nichtwissen als antidemokratische Grundlage einer Scheindemokratie dehnt sich im Alltag in quantenmechanischen Schritten aus, will mir scheinen.

Nun bin ich nicht der Mann dafür, diese neuen Errungenschaften in aller Kürze mal hier unter die Zuhörerinnen zu bringen, unglücklicherweise; ich muss mich damit begnügen, andere Sorten von Verschwörungstheorien aufzugreifen, unter anderem eine, die schon längere Zeit bei der nationalen Rechten kursiert und die für eure Frau Kanzlerin typische Hand-Zeichensprache zum Inhalt hat. Normale Menschen nennen die Form die Raute, ich bin aber geneigt, den rechten Ver­schwö­rungs­theo­re­tikern ausnahmsweise Recht zu geben: Das ist keine Raute, geschätzte Zuhörerinnen und Zuhörer, Frau Merkel zeigt uns seit Jahr und Tag eine Vulva. Das weibliche Geschlechtsorgan. Diese Vorstellung gefällt mir wirklich ausgezeichnet, dass die erste Bundeskanzlerin der deutschen Geschichte während all der Jahre ihrer Regierungstätigkeit dem Publikum immer ein weibliches Geschlechtsorgan vorgehalten hat, welches das Publikum, das sich sowieso den Umgang mit öffentlichen Darstellungen weiblicher Sexualität nicht gewohnt ist, mindestens außerhalb des Konsums von Pornofilmen, eben nicht mit Vulva, sondern mit Raute bezeichnet hat. Ich glaube und ich hoffe, dass sich das Publikum geirrt hat und dass es wirklich so war und noch ein paar Wochen so sein wird, wie ich es schildere. Jaja, jetzt kann man es ja sagen, da Frau Merkel im Herbst abtreten wird. Sie war eben trotz aller Komplizenschaft vor allem mit der Automobilindustrie und noch verschiedenen anderen Interessengruppen, ohne welche sich euer Land ganz offensichtlich nicht regieren lässt, trotz alldem war sie eine Frau.

Übrigens ist das Vulva-Zeichen rein ästhetisch gesehen von ganz anderem Kaliber als alle Penis-Darstellungen von Männern, in erster Linie der gestreckte Mittelfinger. Damit das auch noch gesagt ist.

Aber sprechen wir von etwas anderem. Vom 8. bis am 19. Juni nahm der EU-Beitritts-Wackel­kandidat Serbien an gemeinsamen Militärmanövern mit Russland und Weißrussland teil, irgendwo in Südwestrussland. Das war zweifellos kein besonders wirksamer Beitrag, um die Beitritts­verhand­lungen zu beleben. Allerdings weiß der serbische Ministerpräsident Vucic, dass er trotz allen wenigen Wende-Manövern von Avancen nach China über welche nach Russland bis zu jenen nach Istanbul, vielleicht gibt es sonst noch irgendwo Ansprechpartner, mit welchen man die Kameraden in Brüssel ärgern könnte, sowieso vorderhand keine Chancen hat, bei der EU irgendwo anzudocken, genauso wenig wie die Türkei, die sich früher mal ebenfalls einen EU-Beitritt oder mindestens eine Assoziierung überlegt hatte. Mit der Türkei bleibt der Status quo im Moment fest verleimt mit den fast 4 Millionen Flüchtlingen, die sich dort aufhalten, zum einen und den Überweisungen für ihre Lebenshaltungskosten durch die EU zum anderen. Daneben versuchen die Türken weiterhin, ihre ökonomische und militärische Präsenz im Mittelmeer bis an die früheren Grenzen des osmanischen Reiches auszudehnen, was zwar auf Anhieb wie ein dummer Scherz aussieht, aber doch schon für Stirnrunzeln in ebendiesen Ländern beziehungsweise ihren Märkten gesorgt hat. Anderseits äußerte sich der algerische Regierungschef letzte Woche dahingehend, dass er vor einem Jahr eine militärische Intervention in Libyen an der Seite der Erdopampelmuse ins Auge gefasst hatte, was dem ganzen eine noch etwas pikantere Note verleiht.

Ansonsten bewegt sich die Weltpolitik wieder gemächlich in den Bahnen, die sie schon vor dem Trumpel-Idioten gezogen hatte und die sich übrigens auch während seiner Amtszeit nicht wesent­lich verschoben hatten. Bloß die Rhetorik für die eigene und die ausländische Öffentlichkeit hat sich wieder eingekriegt und bietet ein durchaus friedliches Vorkriegs-Bild. Das ist schön, schließ­lich wird das Öffentlichkeitsklima durch solche Erwärmungen und Abkühlungen durchaus beein­flusst. Allerdings muss man sich bewusst bleiben, dass die Verlautbarungen für die Öffentlichkeit in der Regel sehr wenig zu tun haben mit den tatsächlichen Ereignissen; es ist ein wenig wie mit der Expansion der Verfahrenstechnik in die kapillaren Bereiche des gesamten gesellschaftlichen Lebens hinein, von welchen die Öffentlichkeit nicht nur nichts mitkriegt, sondern auch nichts mitkriegen will. Ob das Gipfeltreffen zwischen Putin und Biden wirklich etwas gebracht hat, zum Beispiel so etwas wie einen Hauch von Verständnis für die russischen Positionen, welches in den westlichen Systemmedien so komplett fehlt, das muss sich erst noch weisen. Erfrischend fand ich jedenfalls den Hinweis von Wladimir Wladimirowitsch, dass sich die US-Amerikaner in Sachen Cyber­spionage und Cyberangriffen durchaus nicht vor den Russen zu verstecken brauchen. Wo er recht hat, da hat er recht. Dass die Russen daneben ein anderes Verständnis haben von Demokratie, ist auch nicht erst seit fünf Jahren gelebte Wirklichkeit. Dabei waren die ja die Erfinder der Rätedemokratie, welche bei einer sachkundigen Ausgestaltung auch keine schlechte Sache zu sein braucht; mindestens in der Schweiz heißt sowieso alles Rat, vom Verwaltungsrat über den Gemeinderat über den Bezirksrat zum Kantonsrat und zum National- und Ständerat bis hin zum Bundesrat – es ist jetzt nicht gerade das, was die Sowjets waren, aber immerhin, ganz daneben war der Ansatz ja nicht. Die Sowjets waren gedacht als Basisorganisationen, Arbeiter- und Bauernräte, welche die Demokratie von unten aufbauen sollten. Das ist eigentlich ein gutes Prinzip. Es stellt sich einfach die Frage, von welchem Grad an die direkten Beschlussgremien abgelöst werden müssen durch repräsentative Gremien, und dann kommt man bald auf die erwähnten kommunalen, Land- und Kreisräte und so weiter und so fort. Und dann stellt sich für die Arbeiterräte auch die Frage, wie weit sie in die Unternehmensleitung eingreifen können und sollen. Vielleicht zeigt sich hier am besten das generelle Problem der Demokratie: Arbeiterinnenräte können locker über alles entscheiden, wenn sie auf der Höhe der Dinge stehen, das heißt, wenn sie informiert sind über die Konkurrenz, die Märkte, die technologische Entwicklung, Finanzierung und so weiter und so fort. Das finde ich eine lustige Idee, die man gut durchexerzieren könnte am Beispiel des Kohleberg­baus. Oder der Stahlindustrie in Deutschland. Da ist man bald einmal froh darüber, dass die schmerzhaften Entscheidungen nicht in demokratischen Gremien getroffen werden. Hat eindeutig seine Vorteile.

Aber werfen wir doch noch einen kurzen Blick nach Turkmenistan, wo Schülerinnen der russisch-turkmenische Schule zusammen mit russischen Diplomaten am 6. Juni den Geburtstag von Alexander Puschkin feierten, indem sie ein Blumengebinde vor seinem Denkmal in einer pittoresken Ecke der Hauptstadt Ashgabat niederlegten. Und am 5. Juni berichtete die Seite turkmenistan.ru über den Beginn der Getreideernte im Lande. Mehr habe ich auf die Schnelle nicht gefunden zu diesem Land, dessen fünfeinhalb Millionen Einwohnerinnen auf einer Fläche von einem Drittel mehr als Deutschland leben.


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Albert Jörimann
22.06.2021

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