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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Es gibt viel zu tun

Eigentlich wäre das Drehbuch für die Entwicklung der Menschheit einfach: Die Produktivität wird so weit gesteigert, bis alle in Wohlstand leben können, ohne dafür übermäßig viel arbeiten zu können. So weit sind wir eigentlich seit einiger Zeit, aber offenbar ist das zu langweilig. Mit irgendetwas muss sich die menschliche Gesellschaft schließlich noch beschäftigen können, und so erfindet sie immer neue Dinge, um vom allgemeinen Wohlstand abzulenken.

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Nun, dann beschäftigen wir uns halt auch weiterhin mit all den überflüssigen Problemen und Strukturen aus dem letzten Jahrtausend, bis dann endgültig die neue Epoche heranzieht. Mir fällt in diesem Zusammenhang immer wieder die französische Revolution ein, welche die bürgerliche Gesellschaft herbei führte, nachdem die Grundlagen in Technik und Wirtschaft über gut 100 Jahre hinweg geschaffen worden waren. So scheint es auch uns zu ergehen, wir brauchen einfach Geduld.

Die Entwicklungen sind manchmal auch verwirrend, auch im wirtschaftlichen Bereich. Die Renaissance des Proletariats ist ein Beispiel dafür. In den Vereinigten Staaten, in England, aber auch auf dem europäischen Festland fehlt es an allen Arten von Arbeitskräften, nachdem wir uns nun jahrelang daran gewöhnt haben, dass die menschliche Arbeitskraft mit der Globalisierung und Automatisierung wegrationalisiert wird, eben: die Maschinen sollen für uns die Arbeit übernehmen, das ist einigermaßen folgerichtig. Und nun sehen wir, dass Chauffeure fehlen, dass es zu wenig Pflegepersonal hat und dass sogar in der vollautomatisierten Industrie die Arbeitskräfte fehlen. Das ist ja dann schon wieder lustig. Da haben uns nicht nur die Prognosen einen Streich gespielt, sondern unsere eigene Auffassung, eben von der Vollautomation. Einerseits entstehen neben den klassischen Produktions- und Konsumbereichen, in denen diese Vollautomation unterdessen Realität ist, neue Bedürfnisse, die zu befriedigen ein zunehmender Anteil der Bevölkerung vonnöten ist; zweitens verschieben sich die Beschäftigten aus traditionellen Berufen zunehmend in neue Bereiche, wodurch dort jene Lücken entstehen, die vorübergehend fast nicht mehr zu schließen sind, das Beispiel der englischen Lastwagenchauffeure steht dafür in besonderer Schönheit, vor allem dort, wo die Busfahrer nun wegen der höheren Löhne für Lkw-Fahrerinnen in den Warentransport wechseln, was wiederum einen Anstieg der Löhne für die Beschäftigten im ÖPNV zur Folge haben wird. Drittens aber zeigen sich die Grenzen des rein mechanischen Verständnisses von Wirtschaft. Diesem Verständnis zufolge müsste bereits heute eine voll automatisierte Wirtschaft eine riesige Warenmenge herstellen, welche in Ermangelung von durch Lohnarbeit geschaffenen Kaufkraft nicht konsumiert würde. So funktioniert das offensichtlich nicht. Soweit auf der Konsumseite einigermaßen Geld in den Warenkreislauf gerät, schafft dieses Konsumgeld auch wieder Beschäftigung, nicht unmittelbar in der Produktion, aber doch in Nebenbereichen, sei es in der Beratungsindustrie oder in Klein- und Mittelbetrieben, welche Alternativen zur Massenproduktion anbieten. Da kommt ganz schön was zusammen. Ich bin geneigt, hier einen praktischen Ausweg aus dem Überproduktions-Dilemma zu sehen. Was mir dabei nicht wirklich klar ist, das sind die Mechanismen, welche das Konsumgeld in den Kreislauf pumpen. Wenn nicht mehr die klassische Industrieproduktion für den Hauptteil der Erwerbsent­schädigung aufkommt, was ist es dann? Sind es diese Umweg- oder Luxussektoren, eben in der Beratung, in der Kurs- und Weiterbildungsindustrie und so weiter? Oder sind es gar tatsächlich die Einnahmen aus Anlagekapitalien, die zum Teil auch in den mittleren und unteren Schichten der Gesellschaft wirksam werden?

Ich weiß es nicht. Von der Tendenz her können alle ihren Anteil am Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft leisten, wobei die Kapitalerträge gesellschaftlich gesehen die deutlich konservativste Tendenz haben, indem sie in erster Linie jenen Schichten zugute kommen, die über besagte Kapitalien verfügen, während die große Mehrheit der Gesellschaft weiterhin nur marginal in den Genuss solcher Erträge kommt. Das muss nicht immer so bleiben; über verschiedene Ver­si­che­rungen bis hin zur Altersversicherung ist im Kapitalbereich die breitere Abdeckung der Bevöl­kerung durchaus möglich, allerdings dauert es sehr lange, bis sich diese Methode auf alle Einwohner:innen ausgedehnt hat. In einigen Ländern geht es schneller, zum Beispiel in Norwegen mit dem Erdölfonds; möglicherweise ist dies ein relativ schmerzloser Weg, um breiteren Bevölkerungsschichten einen Anteil am Wohlstand zukommen zu lassen. Wie gesagt: Ich weiß es nicht, vor allem deswegen nicht, weil es für mich gegenwärtig unmöglich ist, einen Musterweg zu skizzieren, auf den man sich politisch einigen könnte. Die Superreichen enteignen, selbst­ver­ständlich, gebongt; aber bis die Voraussetzungen hierfür geschaffen sind, in erster Linie mit einem globalen Rechtsrahmen, welcher die Enteignung oder immerhin eine nennenswerte Besteuerung erlauben würde, ohne dass sich diese Superreichen in andere Länder oder Regionen absetzen könnten, wird es noch dauern. In der Zwischenzeit empfehle ich, die Superreichen mehr oder weniger so zu betrachten wie das britische Königshaus: eine Familie mit immensen materiellen Gütern, die vom englischen Staat in Höhe von hunderten von Millionen Pfund alimentiert wird, aber ansonsten in Politik und Wirtschaft nicht besonders viel zu sagen hat. Das dürfte auch auf die Superreichen zutreffen, soweit sie nicht so publicitysüchtig sind wie Elon Musk, den man auf der anderen Seite ja schon wieder bewundern muss für das, was er mit seinem Spielgeld anstellt. Der bastelt echt ein Raumfahrtprogramm daraus! Ich habe jemanden von der staatlichen US-amerikanischen Raumfahrtagentur sagen hören, dass diese schon längst pleite wären, wenn sie sich so viele Fehlschläge erlaubt hätte wie der Musk mit seinem Programm; aber der internationale Finanzkapitalismus erlaubt sich solche Spielereien, ohne dass sich dabei an den politischen Verhältnissen in den Vereinigten Staaten und auch sonstwo irgend etwas ändern täte.

Unterdessen plagen wir uns mit anderen Fragen herum, unter anderem mit der Klimaerwärmung, unter anderem mit dem COP-Gipfel in Glasgow. Ich mag die faulen Ausreden und leeren Ver­spre­chun­gen schon gar nicht mehr mit anhören. Dabei bin ich nicht einmal übermäßig klimaskeptisch; in der Praxis finden nämlich trotz allem gewisse Verbesserungen statt. Das Einzige, was mich beunruhigt, ist ein Hinweis, dass in absehbarer Zukunft ausgerechnet die Digitalisierung mit den gewaltigen Datenspeichern zur größten Energieverbraucherin wird, was eigentlich nicht der Zweck der Übung gewesen war; vielmehr hatte ich mir erhofft, dass mit der Digitalisierung unnütze Wege und Prozesse eingespart oder verbessert werden können. Anderseits wird auch im Energie­bereich sehr viel geforscht, was mir als durch und durch wissenschaftsgläubigem Menschen ebenfalls Hoffnung einflößt. Dass umgekehrt die Klimaveränderung schon weiter fortgeschritten ist, als ich mir es hätte vorstellen können, belegt die dauerhafte Öffnung der Schiffs-Nordpassage in der Arktis; wenn ich mir vor Ort ein Bild machen will, kann ich auch eine Wanderung in den Alpen unternehmen oder Bilder von Gletschern anschauen, das reicht vollauf.

Dann wiederum will ich mir meine Zukunftsvorstellungen nicht ausschließlich unter dem Aspekt der Bekämpfung des Klimawandels bilden. Fridays for Future ist schwer in Ordnung, aber es gibt dann immer noch die Tage von Samstag bis Donnerstag, und in diesen geht es um den Alltag, um die neue soziale Ordnung, die aufgrund des bestehenden Wohlstandes – eben, nicht eines künftigen, sondern des aktuellen – nun möglich wird und die einzurichten die Hauptaufgabe der Gegenwart ist, auch wenn sich damit praktisch keine Sau beschäftigt. Nach meiner Ansicht kann die Klimafrage quasi als Nebenprodukt der sozialen Frage gelöst werden, zum Beispiel bei der Umrüstung der Heizanlagen in den kälteren Weltgegenden auf Alternativenergien, Wärmepumpen und was weiß ich noch alles Schöne, wo nämlich als Nebenprodukt auch massenweise Arbeitsplätze entstehen, für den Fall der Fälle. Wenn sich die Gesellschaft solche leicht teureren System leisten will, dann kann sie es auch. Daneben müssen verschiedene Hindernisse in den Köpfen überwunden werden, die sich auch als Hindernisse im Recht formieren, zum Beispiel beim Einspracherecht gegen absolut vernünftige Dinge wie Stromtrassen und so weiter. Es gibt allerdings noch viel härtere und höhere Hindernisse in den Köpfen, zum Beispiel jener Mangel an Bildung, wie er sich in der Corona-Frage manifestiert, der aber auch in vielen anderen Bereichen sichtbar wird und der von den neuen sozialen Medien durchaus gefördert werden kann – für definitive Erkenntnisse hierzu, also in Bezug auf den Einfluss von Gaming und Handykonsum auf die intellektuellen Fähigkeiten der Bevölkerung liegen nach meinem Kenntnisstand noch keine wirklichen Daten vor. Darauf wird auf jeden Fall zu achten sein, dass der moderne Mensch nicht zum Gaming-Zombie wird, wie dies der alte Mark Zuckerberg offenbar sogar anstrebt mit dem Angebot, von Facebook in sein neues virtuelles Universum, in das Metaversum zu wechseln, wo, wie ich vermute, nicht auf die Stärkung der geistigen Fähigkeiten der Benutzer:innen gesetzt wird, sondern auf ihre Zerstreuung. Aber auch das ist im Moment nicht mehr als eine Vermutung, abgesehen davon, dass der radikale Umzug in das von Zuckerberg erträumte Metaversum, das zu allem hin auch noch in seinem persönlichen Besitz befindet, also tatsächlich die Eroberung der gesamten Menschheit zum Ziel hat, dass dieser Umzug also noch lange keine Tatsache ist, nicht zuletzt wegen der gewaltigen Energiemengen, welche eine solche erneute Verdoppelung der Welt im digitalen Bereich noch einmal zusätzlich konsumieren täte.

Das größte Hindernis befindet sich aber dort, wo die Menschen sich selber nicht als Akteure, sondern als Konsument:innen auffassen, wobei die Extremform dieser Sorte von Konsument:in für mich die berühmte Cindy von Marzahn ist, die es allerdings seit 5 Jahren gar nicht mehr gibt. Ich spreche von den Bewohner:innen in den Vorstädten, welche in der Praxis kaum Aussichten haben auf, sagen wir mal: Veränderung und die sich damit abgefunden haben, ein Leben vor dem Fernsehen oder eben neuerdings in den sozialen Medien oder beim Gamen zu führen. So etwas ist eine Beleidigung für den ihnen zur Verfügung gestellten Apparat, nämlich das eigene Hirn, das eigentlich bei jedem einzelnen Menschen zu absoluten Glanzleistungen fähig ist, sofern man es einigermaßen gebrauchsfertig einrichtet. Dass so viele Menschen diesen Apparat auch heute noch ausschalten oder nicht in Betrieb nehmen, das ist ein Skandal, den ich zum Teil dem so genannten System zuschreibe, an dem aber auch die Betroffenen selber einen Anteil haben. Hier, in den Vorstädten und bei den Unterprivilegierten, muss eine Bewegung ansetzen, welche die Emanzipation solcher Couch Potatoes zum Ziel hat. Was nicht ganz einfach ist, wie man weiß. Jaja, es gibt viel zu tun, eigentlich überflüssigerweise.


Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
02.11.2021

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