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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Die Heils-Armee

Wenn ich heute von modernen Staaten spreche, dann meine ich in erster Linie die Normannen oder Nordfrauen.



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> Download Die neue finnische Regierungschefin sagte bei ihrem Amtsantritt, sie sei sich bewusst, dass sie ihre Position nur dank dem funktionierenden Sozialstaat erreichen habe können, und dieses Bewusstsein wird auch in den Ländern im Westen Finnlands geteilt, während im Osten der russische Staat bis auf weiteres eine unglückliche Kreatur aus den Überresten sowjetischer Strukturen und der ursprünglichen russischen Akkumulation vor dreißig Jahren bleiben wird. Deutschland darf man im Prinzip ebenfalls anständige Zensuren erteilen, wenn auch die Gesetzgebung und der Beamtinnenapparat einen unnötig komplizierten und schwerfälligem Eindruck machen, ganz abgesehen von Epiphänomenen wie die Verkehrsminister Dobrindt und Scheuer und andere. Solche Witzfiguren leistet sich ein Staat, der etwas auf sich hält, grundsätzlich nicht. Anderseits sind wir uns bewusst, dass nicht nur im fernen Mexiko, sondern auch im nahen Italien der Staatsapparat als solcher und in seiner Verzahnung mit dem organisierten Verbrechen eine prähistorische Ausformung aufweisen.

Auf eine andere Art modern ist Frankreich. Der mehr oder weniger anhaltende Generalstreik der Gewerkschaften gegen die Rentenreform von Präsident Macron betrifft selbstverständlich eine Grundfrage aller entwickelten Gesellschaften: Wie sind die Renten angesichts der weiterhin steigenden Lebenserwartung zu finanzieren? Ich habe mich nicht im Detail mit den Reform­vor­schlägen befasst und entnehme in erster Linie den Gewerkschaftsprotesten die Vermutung, dass sich der Streik in erster Linie gegen die Abschaffung verschiedener Privilegien für verschiedene Beschäftigtenklassen richtet, in erster Linie selbstverständlich für Staatsangestellte. Das Dilemma zeigt sich in der klassischen Form: Sonderlösungen und Privilegien können auch bei den Beschäftigten nicht zur Grundlage des Sozialversicherungssystems werden, im Gegenteil: je einfacher, desto besser. Anderseits bedeutet der Verzicht auf einzelne Sozialerrungenschaften eine Schwächung der Gewerkschaften und damit der Arbeiterklasse als ganzes. Je nach aktueller Gemütslage kann man da den einen Aspekt stärker gewichten als den anderen; meine persönliche Befindlichkeit neigt in diesem Winter eher zu Emanuel Macron, weil ich die um Privilegien kämpfenden Gewerkschaften, insonderheit der Staatsangestellten, schon länger im Verdacht habe, dass sie vollständig ohne die früheren Grundsätze von Emanzipation der Arbeiterklasse agieren und aus diesem Grund die Glaubwürdigkeit verspielt haben, die Avantgarde des Proletariats zu sein. Aber immerhin bringen sie die Leute noch auf die Straße, und das ist dann auch wieder eine Errungenschaft an und für sich. Man sieht: Es ist schwierig.

Aber die Modernität von Frankreich besteht in erster Linie darin, dass es das einzige europäische Land ist, das sich eine eigene globale Einsatz-Kampftruppe leistet und sie auch tatsächlich in den ehemaligen Kolonien einsetzt. Eine zentrale Voraussetzung für den Erfolg solcher Missionen ist das Abstützen auf die ehemaligen kolonialen Strukturen, also nicht nur auf das Militär, sondern auch auf Handel und Investitionen und auf den Austausch mit den lokalen Eliten, zunächst einmal unabhängig davon, wie stark oder weniger stark korrupt die nun sind. Nachdem sich der Islam in seiner islamistischen Form seit der ersten Erdölkrise in den siebziger Jahren in den Kopf gesetzt hat, er müsse die mittelalterliche Tradition der Kreuzzüge wieder aufnehmen, zuerst gegen innen mit dem Sturm auf die Große Moschee in Mekka, gefolgt von der Entfesselung der wahabitischen Missionarstätigkeit mit saudiarabischen Geldern und dann mit den verschiedenen Terroranschlägen in der westlichen Welt, tobt im Moment vor allem rund um die Sahara ein Wüstenkrieg, in welchem die Franzosen die militärische Hauptrolle spielen. Die lokalen IS- oder Al-Kaida-Ableger sind im Moment nicht übermächtige Gegner; was aber stets zu berücksichtigen bleibt, ist der Weg nach Libyen, wo in einem gewissen Sinne ähnliche Verhältnisse herrschen wie in Syrien. Das mag wohl auch der Grund dafür sein, dass sich unser aller verehrter Erdopimpel aus der Türkei dazu entschlossen hat, seinerseits in Libyen einzugreifen, wobei für unsereiner noch nicht ganz klar ist, wie er das per Saldo anstellen will. Er unterstützt den offiziellen libyschen Staatschef Sarradsch, während Frankreich auf seinen Gegenspieler General Haftar setzt. Aus europäischer Perspektive könnte es sich bei Frankreichs Wahl in erster Linie um eine Frage der Erdölversorgung handeln, aber ich gehe davon aus, dass die strategische Überlegung vor allem die Möglichkeiten einer Austrocknung des Südens von Libyen als Hinterland für die Islamisten betrifft. Das würde auch zum Einsatz der russischen Fremdenlegion an der Seite von General Haftar sprechen. Auf der anderen Seite kommen sich unser Erdopimpel und Gospodin Putin nun auch in Libyen in die Quere, wofür ich nicht den Hauch einer rationalen Begründung sehe; die Türkei hat weder das Personal noch die Möglichkeiten für eine direkte Intervention zugunsten von Sarradsch, und an der Qualität ihrer Militärberatung hege ich zunächst noch einige Zweifel. Insofern muss ich folgern, dass es sich hier in erster Linie um eine türkische Propaganda-Maßnahme handelt, die von den primären Zielen in Syrien ablenken soll. General Haftar umgekehrt hatte früher Kontakte nicht nur zur CIA, sondern auch zum ägyptischen Despoten Al Sisi und Finanzierungsquellen in den Vereinigten Arabischen Emiraten, und vor zwei Jahren gelang es ihm, die Islamisten aus Bengasi zu vertreiben. Insofern erscheint er als durchaus bessere Option für eine «Befriedung» des ganzen Landes, wie man so schön sagt, wobei der Süden Libyens dann nochmals eine andere räumliche Tiefe aufweist als die Küstenregion. Aber wenn der Konflikt an der Küste erst einmal beigelegt ist, dann ist an ein Vorgehen im Landesinneren überhaupt erst systematisch zu denken, im Gegensatz zu heute.

Persönlich hatte ich den Eindruck, dass die Entscheidung jetzt gefallen sei, als ich vom Einsatz der russischen Söldner an der Seite Haftars hörte, und nach meiner Einschätzung war das insgesamt eine positive Entwicklung. Frieden und Demokratie sind in Libyen im Moment nicht die aktuellen Themen, sondern die Herstellung einer handlungsfähigen Zentralmacht, vorderhand auf militärischer Grundlage, wie das halt in Kriegszeiten manchmal der Fall ist.

Diese Dimension der französischen Politik wird bei den Diskussionen über die Modernisierung des Landes oft vergessen, wobei meines Wissens auch die außerparlamentarische Opposition keine grundsätzlichen Einwände gegen solche Auslandeinsätze des Militärs vorbringt; dafür haben die verschiedenen islamistischen Anschläge in Frankreich gesorgt. Was aber unser aller verehrtester Erdogan in dieser Angelegenheit für Vorstellungen hat, das bleibt uns derart gründlich verborgen, dass ich geneigt bin, ihn einfach als weiteren Psychoten an der Spitze einer Regierung einzuschätzen wie zum Beispiel in den USA oder in Brasilien. Offenbar sind solche Länder in der Lage, auch einen Typen zu ertragen, der nicht mehr zurechnungsfähig ist, solange nur der Apparat rund um ihn herum funktioniert.

Im Nachbarland von Libyen, in Algerien sind die Verhältnisse eher klassisch, die herrschende Clique hat die Neuwahlen so eingerichtet, dass mit Abdelmadjid Tebboune ein mehrfacher Minister und ehemaliger Ministerpräsident unter Bouteflika zum neuen Präsidenten gewählt wurde; nach den Massenprotesten gegen die vorherige Regierung hat sich also überhaupt nichts geändert. Dass damit der Unmut in der Bevölkerung eher angestachelt als besänftigt wurde, ist logisch. Umgekehrt sind die Algerierinnen immer noch traumatisiert von den Folgen der demokratischen Öffnung Ende der 1980-er Jahre und dem Militärputsch gegen die Wahlsieger von der Islamischen Heilsfront, in dessen Folge bis zu 200'000 Menschen starben in der Auseinandersetzung zwischen dem bewaffneten Arm der Heilsfront und der Armee, wobei immer wieder behauptet wird, dass die Armee selber einen ansehnlichen Teil der Terroraktivitäten inszeniert hätte, welche dann der Heilsarmee in die Schuhe geschoben wurden. Die Bevölkerung ist sehr vorsichtig im Umgang mit allen Formen eines arabischen Frühlings. Trotzdem ist eine entschlossene Reformpolitik der neuen Regierung die einzige Möglichkeit, um die Fortsetzung der Unruhen zu verhindern. Sie hat dafür Zeit bis im nächsten Frühling, würde ich mal sagen. Vielleicht gibt ihnen Emanuel Macron den einen oder anderen Tipp.

Macron kündigte übrigens am Samstag, 21. Dezember zusammen mit seinem Amtskollegen Alassane Ouattara von der Elfenbeinküste eine große Reform des westafrikanischen Teils der Gemeinschaftswährung CFA, Franc de la Communauté Financière en Afrique, an. Hier ist er die offizielle Währung in Benin, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Guinea Bissau, Niger, Mali, Senegal und Togo, und vom Jahr 2020 an soll er Eco heißen. Der CFA ist Zahlungsmittel auch in Zentralafrika, namentlich in Kamerun, im Kongo, im Tschad, in der Zentralafrikanischen Republik, in Gabun und in Äquatorialguinea. Der CFA ist über die Deckung durch die französische Notenbank an den Euro gekoppelt. Die Länder sind frei, daneben noch eigene Währungen herauszugeben, was allerdings eher selten geschieht. Der Eco ist vorgesehen als zukünftige Währung der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Cedeao, welche auch die nicht-frankophonen Länder umfasst; seine Einführung wurde eigentlich bereits 1993 beschlossen, aber die frankophonen Mitgliedstaaten waren gegenüber den anderen ziemlich skeptisch. Auch beim aktuellen Anlauf geht man davon aus, dass bis zur definitiven Einführung noch einige Zeit verstreichen wird, während der der CFA in den erwähnten Ländern seine Gültigkeit behält.

Und im Sudan schließlich prüft die neue Regierung die Aufhebung der Subventionen für Treibstoff. Laut den aktuellen Plänen soll die Aufhebung stufenweise erfolgen und begleitet werden von einer Verdoppelung der Löhne – für die Staatsangestellten. Die Gründe für den Subventionsstopp sind nicht schwer zu erraten: ein gewaltiges Staatsdefizit von mehreren Dutzend Milliarden Dollar bei einer vollständig am Boden liegenden Wirtschaft, nicht zuletzt aufgrund des 20-jährigen US-Wirtschaftsembargos bis 2017 aufgrund der Unterstützung islamistischer Gruppen.



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Albert Jörimann
24.12.2019

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