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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Piketty im Economist

In seinem neuen Buch erweitert Thomas Piketty die Geschichte der Ungleichheiten bei Einkommen und Vermögen um jenen Faktor, welcher es ermöglicht, dass solche Ungleichheiten überhaupt hin­genommen werden: um die Ideologie.



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> Download Tatsächlich bedarf es schon eines ansehnlichen, ja eines umfassenden Geflechts von Argumentenketten, welche es als normal erscheinen lassen, dass zum Beispiel Susanne Klatten ein Vermögen von 20 Milliarden Euro ihr eigen nennt, zu welchen sie übrigens nachweislich nicht den kleinsten eigenen Beitrag geleistet hat, sondern die ihr alle ver­mittels ihrer Abstammung, also sozusagen genetisch zugewachsen sind. Weshalb werden solche Menschen nicht enteignet und meinetwegen mit einem leicht erhöhten Grund­ein­kommen in Rente geschickt? Weshalb bilden sich bei der Mehrheit der Einwohnerinnen, welche beim Vermögen in die Röhre kucken, nicht etwa ein klassischer Sozialneid aus auf die Klattens und Konsorten zum einen und ein veritabler Hass auf all die bezahlten Professoren, welche solche schreienden Verstöße gegen sämtliche Grundsätze der Gleichheit, aber auch der Gerechtigkeit, ja sogar der Leistungs­gerech­tigkeit rechtfertigen? Die Ideologie vollbringt das Kunststück, dass die normalen Menschen all das als normal hinnehmen, ja, mehr noch, sie bringt es fertig, dass normale Menschen, je weniger sie besitzen und einnehmen, desto radikaler sind in ihrem Hass nicht auf «die da oben», sondern auf ihresgleichen respektive auf all jene, denen es noch etwas schlechter geht als ihnen selber. Ideologie ist wirklich ein Weltwunder, und wie sie funktioniert, das muss Gegenstand von ernsthaften Untersuchungen bilden, welche ich hier nicht anstellen mag.

Stattdessen wende ich mich den, in der Ungleichheit und in Verteilungsfragen zentralen Ideologen, den Ökonomen zu, konkret der Zeitschrift «The Economist», in dessen November-Ausgabe der Versuch unternommen wird, die Grundlagen von Pikettys Untersuchungen zu hinterfragen, was einerseits eine löbliche Arbeit ist, indem selbstverständlich keinerlei Art von wissenschaftlicher Arbeit sich der grundsätzlichen Infragestellung entziehen darf; anderseits steht der Economist nicht im Verdacht, besonders systemkritisch zu sein und insonderheit flammende Plädoyers gegen die Ungleichheiten bei Einkommen und Vermögen abzusetzen – ganz im Gegenteil liefert der Economist selber mit tiefschürfenden Analysen monatlich Treibstoff für die rein ideologische Grundvermutung, dass alles gut so ist, wie es ist, dass also die Reichen ihr Geld aus gutem Grund besitzen, zum Beispiel weil sie aus gutem Haus stammen oder so ähnlich. So würde das der Economist selbstverständlich niemals schreiben, sondern die Analyse bezieht sich immer auf ernsthafte Felder wie Bruttoinlandprodukt, Technologie, Finanzmarkt und weitere Kraftfelder moderner Nationalökonomie. Für unsereins steht damit fest: Wenn der Economist sich anschickt, Piketty am Zeugs herumzukritteln, dann steht er zum Vornherein im Verdacht, Ideologie zu betreiben. Und so tönt es denn auch gleich einleitend: Nachdem Pikettys Vorwürfe bezüglich der krassen Ungleich­heiten aus dem Bereich des Akademischen in die Politik hinüberschwappen, in den Vereinigten Staaten zum Beispiel in den Programmen der demokratischen Prä­si­dent­schafts­kan­di­datinnen Bernie Sanders und Elizabeth Warren, machen sich verschiedene Forscher daran, seine Aussagen zu überprüfen und fragen sich, ob die Ungleichheit tatsächlich so stark zugenommen hat, wie behauptet wird, oder vielleicht eher sogar überhaupt gar nicht, denn es sei ziemlich schwierig festzustellen, wieviel die Individuen pro Jahr verdienen oder wieviel Wert ihre Besitztümer haben.

In der Tat: Man spürt schon fast körperlich den Widerwillen der Ökonomen von Economist gegen die Benennung, die tatsächliche Quantifizierung der Ungleichheit. Ich kann da mit einem neueren Beispiel aufwarten: In der Schweiz geht man davon aus, dass im nächsten Jahr Vermögen im Umfang von fast 100 Milliarden Franken vererbt werden. Das ist an sich schon eine gewaltige Summe, ein Siebtel des Bruttoinlandprodukts, wobei das BIP eine Einkommensgröße darstellt und keine Vermögensgröße, aber immerhin, auch wenn wir für das Verhältnis zwischen Einkommen und Vermögen den Faktor 6 einsetzen, würde es sich immer noch um ein Zweiundvierzigstel des Bruttoinlandvermögens handeln, das da im Jahr vererbt wird, und dies bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 84 Jahren – wirklich bemerkenswert und sicher keine Erdnüsschen. Beson­ders bemerkenswert daran ist sodann, dass dreißig Prozent dieser Erbgüter an nur 1% der Erbenden gehen – da sind wir wieder bei unserer Problemstellung, welche dem Economist ganz offensichtlich unangenehm ist. Und schon beginnt die Revue der Piketty-Kritik. Laut Thomas Blanchet von der Paris School of Economics habe sich in Europa der Anteil der 10% mit den höchsten Einkommen an den Gesamteinnahmen nach Steuern im Vergleich zu den unteren 50% seit den 1990-er Jahren kaum verändert. Auch für die USA errechnen die Ökonomen Gerald Auten und David Splinter vom Bundesfinanzamt und vom Steuerausschuss des Kongresses, dass sich der Anteil des obersten Prozentes an den Gesamteinkommen, bereinigt um Steuern und Transfers, seit den 1960-er Jahren fast nicht verändert habe. Auten und Splinter korrigieren angeblich Schritt um Schritt all die Fehler, welche Piketty bei der Berechnung unterlaufen seien; so ermittle dieser die reichsten 1% auf der Grundlage von Steuereinheiten, also in der Regel Haushalte; aber in der Zwischenzeit hätten Eheschliessungen bei den ärmeren Amerikanern unverhältnismässig stark abgenommen, was die Anzahl Einheiten erhöht, deren Einkommen schmälert und so zu einem steigenden Anteil der offenbar weiterhin heiratslustigen 1%-Elite führt. Das Budget-Büro des Kongresses stellt mit seinen eigenen Berech­nungen immerhin eine enorme Zunahme der Spitzeneinkommen in den 1980-er und 1990-er Jahren fest, wobei die steigenden Aufwände für bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen an die Minderbemittelten, vor allem in der Krankenversicherung und vor allem in den beiden Jahren 1997 und 2014 zu einer Zunahme der entsprechenden Transfers von über 80% zwischen 1976 und 2016 geführt hätten – diese Aussage höre ich zwar zum ersten Mal, sie braucht deswegen nicht falsch zu sein, interessant ist sie auf jeden Fall, und sie sagt eben nicht besonders viel aus über Verteilungs­ge­rech­tigkeit beziehungs­weise die Entwicklung der Besitzverhältnisse.

Verschiedene Autoren, unter anderen Auten und Splinter, stellen die Frage, ob Piketty korrekt unter­schieden habe zwischen Vermögenszuwachs bei investierten Kapitalien auf der einen Seite und in den Unternehmen zurückbehaltenen Erträgen, was wiederum Piketty und seine Mit­arbei­tenden zu neuen Berechnungen veranlasst hat; das Ergebnis ist offenbar ungefähr das gleiche wie zuvor. Eine weitere Schwierigkeit besteht bei der Zuteilung jener Anteile des Brutto­inland­pro­duktes, welche nicht auf den Steuererklärungen der Personen auftauchen; das sind immerhin 40 Prozent. Auten und Splinter behaupten, Piketty würden hier verschiedene Geldflüsse als Einnahmen für Pensionskassen einordnen, während es sich in Tat und Wahrheit um bereits vorhandene Erspar­nisse handle, welche von einem Konto aufs andere verschoben würde, was das Team Piketty be­streitet.

Ein etwas interessanterer Aspekt betrifft die Entwicklung der mittleren Einkommen in den USA. Piketty spricht von einem Rückgang um 8% zwischen 1979 bis 2014, während der Budget­ausschuss des Kongresses eine Zunahme um 51% ausweist. Diese Differenz wird im Artikel nicht vertieft.

Sodann findet Matthew Rognlie von der Northwest University, dass der unbestrittene steigende Anteil des Kapitals im Bruttoinlandprodukt zulasten der Lohn-Anteile vor allem auf den Immo­bi­lien-Sektor zurückzuführen sei, nicht auf Aktien und Obligationen. Und Matthew Smith vom US-Finanzministerium meint, dass ein schöner Teil des Einkommens der Reichsten aus Pass-through-Businesses stamme, was oft als Investitionseinkommen verstanden werde, aber eigentlich Arbeitseinkommen sei. Gilbert Cette von der Banque de France, Thomas Philippon von der Uni Newyork und Lorraine Koehl vom französischen INSEE schlagen in die gleiche Kerbe und weisen auf Verzerrungen hin aus der Verwechslung zwischen Selbstbeschäftigung und Kapitaleinkommen. Und was gar das dynamische Element angeht: Die größten Zunahmen bei den Vermögen seien in den untersten Segmenten zu verzeichnen, denn wer arm ist, hat die höchste Chance, einen großen Vermögenszuwachs zu erzielen, zum Beispiel von null Dollar auf 100 Dollar, nehme ich an.

Auten hält erneut gegen Piketty, diesmal mit einer Untersuchung der Entwicklung des Einkommens von 35–40-Jährigen über 20 Jahre hinweg: Die 20% mit den tiefsten Einkommen erzielten in diesem Zeitraum einen Zuwachs um 100%, die 20% mit den höchsten Einkommen büßten sogar 5% ein. Und dann gibt es die Herren Smith, Zidar und Zwick, welche feststellen, dass festverzinsliche Wertpapiere eine kleinere Rendite bringen als Aktien und dergleichen, und weil die Reichsten der Reichen ihr Kapital gerne auch in diese Anlagekategorie investieren, sei der Anteil der reichsten 0.1% der Bevölkerung, hier übrigens wieder nach Haushalten, am Gesamtvermögen nur 15% und nicht 22%. Was für ein Skandal, ökonomisch gesprochen.

Ja, was für ein Skandal. Nun, der Economist hat das Verdienst, dass er über die Versuche berichtet, die Tatsache der massiven Vermögens- und Einkommens-Ungleichheiten durch das Herumkritteln an einzelnen Details in der Berechnungsmethode in den Hintergrund treten zu lassen. Die Zeit­schrift nennt die Auseinandersetzung selber eine lange und blutige akademische Schlacht und setzt hier «akademisch» vollwertig an die Stelle des richtigen «ideologisch». Aber die Tatsache, dass der Anteil der obersten 10%, 1% oder des obersten Tausendstels am gesellschaftlichen Reichtum zugenommen hat, die lässt sich auch bei der heftigsten Auseinandersetzung nicht verwischen. Welche Schlussfolgerungen man daraus zieht, zum Beispiel die Forderung nach einer praktischen Enteignung oder mindestens die massive Erhöhung der eBesteuerung, ist dann wieder eine andere Frage, die man unter anderem vor dem Hintergrund der bestehenden Steuerschlupflöcher und Steuerparadiese zu diskutieren hat, und hier spreche ich nicht mal nur von der Schweiz, sondern unterdessen fast eher von den Niederlanden oder wie seit eh und je von der Karibik oder von den Kanalinseln.



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Albert Jörimann
17.12.2019

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