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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Julian Barnes

Der deutsche Bundestag hat letzte Woche die Pandemienotlage verlängert, was verschiedenen Parteien nicht gefallen hat, namentlich der Linken, der FDP und der AfD. Am Wochenende erfolgte dasselbe in der Schweiz, allerdings nicht durch einen Bundestagsbeschluss, sondern durch eine Volksab­stimmung.

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Genau gesagt stimmten die Schweizer Stimmbürgerinnen über ein Referendum ein, welches die sogenannten «Freunde der Verfassung» ergriffen hatten gegen ein entsprechendes Gesetz, das vom Parlament beschlossen worden war. Die «Freunde der Verfassung» sind im objektiven und neutralen Ausland ungefähr das, was bei euch die Querdenker, bloss haben sie's nicht so mit dem Denken, also auch nicht quer, sondern reden den mittlerweile allgemein bekannten Stuss daher, unter anderem, dass mit diesem Gesetz die Demokratie abgeschafft werde, vor allem natürlich die direktdemokratischen Instrumente, eben das Referendum und die Volksinitiative. Ich gehe mal davon aus, dass sie selber gar nicht gemerkt haben, dass sie mit dem Referendum genau solch ein Instrument verwendet haben, dass die Volksrechte also weit entfernt davon sind, abgeschafft zu werden. Stattdessen zeigt sich einmal mehr das alte Problem der Demokratie, und zwar nicht nur der direkten: Sie funktioniert eigentlich nur, wenn die ihr innewohnenden Menschen wirklich mündige Bürgerinnen sind im republikanischen Sinne, das heißt, sie verfügen über die notwendigen Informationen und, möchte man anfügen, sie haben auch das Herz am rechten Fleck und sind in der Lage, nicht nur für sich und ihren eigenen Klüngel, sondern auch aus der Perspektive des Volksganzen, ja, mehr noch: des Menschheitsganzen heraus Entscheide zu fällen. Mit dem, was unter dem Begriff Volk regelmäßig subsummiert wird, haben wir ja nicht nur gute Erfahrungen gemacht, aber ich lasse das hier mal stehen, weil ich ausdrücklich von der republikanischen Seite des Begriffes spreche, welche nun mal weit über Grenzen und Nationen hinaus reicht. Damit dies auch wieder mal gesagt ist.

Die Stimmbürgerinnen haben dieses Covid-Gesetz deutlich angenommen, wogegen sie sich dafür entschieden haben, ein anderes Gesetz, welches verschiedene Maßnahmen zur Reduktion des CO2-Ausstoßes beinhaltete und nach einigermaßen zähem Ringen zwischen den politischen Kräften zustande gekommen war, abzulehnen. Offenbar spielte dabei eine wichtige Rolle, dass gleichzeitig mit dem Covid- und dem CO2-Gesetz noch zwei Volksinitiativen zur Abstimmung kamen, welche sauberes Trinkwasser und ein Pestizidverbot forderten. Gegen diese Initiativen mobilisierten die im Bauernverband verfassten Bauern, zusammen mit der Automobil- und Erdölindustrie, alles, was im reaktionären Residuum der Schweiz Hand und Stimmzettel hat, und so machte der Klimaschutz an diesem 13. Juni 2021 einen recht unerwarteten Rückschritt. Ein weiteres Mal konnte man feststellen, dass sich im Herzen der Schweiz ein richtig vollwertiger Idiotenkanton ausgebildet hat, und zwar nun schon seit gut 20 Jahren; im Moment dürfte der Idiotenfaktor auf der Spitze angelangt sein. Es handelt sich um den Kanton Schwyz, in welchem die nationalistische Verlogenheit in einer permanenten Bierzelt-Atmosphäre richtiggehend zelebriert wird. Das beste Symbol dafür war irgendwann mal im letzten Winter ein Jodelfest, bei welchem sich das Publikum nicht an Test- und Maskenpflicht hielt, worauf sich die Intensivstation des Kantonsspitals Schwyz zehn Tage später bis aufs letzte Bett füllte. Ich bin versucht, den Kanton Schwyz mit eurem Bundesland Sachsen zu vergleichen, obwohl die Unterschiede enorm sind; bloß der Dumpf- und Dummheitspegel dürfte in beiden Weltgegenden ähnlich hoch stehen.

Aber was halte ich mich mit dem Kanton Schwyz auf, wo ich doch über das Gipfeltreffen der 7 wichtigsten Industriestaaten der Welt sprechen kann! – Der 7 wichtigsten? Nein! Einer fehlte, und vermutlich fehlte auch noch ein anderer, nämlich Russland, aber das ist ein anderes Kapitel. Wer aber fehlte, das war die Chinesererin, welche dafür offenbar das Hauptthema dieses Gipfeltreffens bildeten, genauer: Was man vernünftigerweise unternehmen könnte, um die Chinesererin, bei welchen übrigens an der Führungsspitze ungefähr so viele Frauen vorhanden sind wie Alkohol in alkoholfreiem Bier, endlich bei ihrer globalen Expansion in die Grenzen zu weisen. Ja, schön, wie holt man die Versäumnisse vor allem auf dem afrikanischen Kontinent innerhalb von nützlicher Frist wohl auf? – Denn darum geht es, um die eigenen Versäumnisse der ehemaligen Kolonial­herren, viel weniger um die Aggressivität der Volksrepublik China, welche ich zwar keineswegs in Frage stelle, die mir aber fast nur im innenpolitischen Bereich Sorgen macht – außenpolitisch haben die Jungs sehr viel richtig gemacht, einmal abgesehen von ihrer, wie man nicht genug immer wieder unterstreichen kann, historischen Leistung bei der Entwicklung der eigenen Wirtschaft, aber auch bei der Akkumulation von Fremdkapital, mit dem sie unterdessen fast unbeschränkt auf der Welt herum furzen. Meine Hochachtung, auch hier nochmals.

Übrigens hier eine Zwischenbemerkung zur Erdopampelmuse: Wenn man ein bisschen genau hinhört, wird man feststellen, dass im Großraum Naher Osten, Kaukasus und östliches Mittelmeer immer wieder ominöse türkische Kapitalien auftauchen, was nicht so recht passt zur allgemeinen Diagnose, dass der Erdopimpel mit seinen erratischen Eingriffen vor allem bei Nationalbank und Finanzministerium die türkische Währung und Wirtschaft in Grund und Boden wirtschafte. Irgendwie passt das nicht zusammen mit dem wirklich sehr breiten Teppich an Investitionen, die aus der Türkei in der ganzen Gegend getätigt wurden und die in gewisser Weise an das chinesische Vorbild erinnern, wenn auch mit Sicherheit um zwanzig Potenzen kleiner und vielleicht letztlich auch eher als Karikatur denn als wirkliche Expansion, obwohl der Erdopimpel seine entsprechenden Gelüste schon lange ziemlich offen verkündet.

Aber Spaß beiseite. Die G7 haben sich also wieder in altbekannter Minne untereinander ausgetauscht, als hätte es Donald Trump nie gegeben, und so muss man dieses Treffen denn auch einschätzen: Es ist genau gleich wie früher, bloß nimmt diesmal keiner daran teil, der auf den Esstisch scheißt. Für das Auge der Betrachterin ist das immerhin schon ein Fortschritt; was konkrete Ergebnisse angeht, so ist man so klug wie schon vorher nicht.

In Erwartung einer zwangsläufig längeren Phase des globalen Wirtschaftsaufschwungs und oben drauf der Bundestagswahlen in Deutschland im Herbst besinne ich mich wieder mal auf ein paar Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Soeben beendet habe ich das 300-seitige Werk «Was vom Tag übrig blieb» des Literaturnobelpreisträgers Kazuo Ishiguro, und ich kann sagen, dass mir dieses Buch, für welches der Herr eben den Nobelpreis erhielt, in keiner Art und Weise gefallen hat. Weder die Geschichte einer megamäßigen Sublimation von Beziehungen, die mir völlig unplausibel erscheint, noch die auf, nach allen gängigen Standards englische Art der objektiven Darlegung von Gedankengängen der Butler-Hauptfigur inklusive der Konterkarierung im Laufe der Beschreibung, und auch nicht die Geschichtchen, wie sie aus dem Aufeinanderprall eines First-Class-Butlers mit der einfachen Bevölkerung entstehen, haben mich überzeugt und gefesselt, was aber vor allem am Kardinalproblem liegt: Diese Figur ist genau so relevant wie die Fernsehserie «Downtown Abbey» und das ganze adelige Gesocks im England des 20. Jahrhunderts, nämlich überhaupt nicht. Es gibt keinen Grund, sich mit dieser Schicht der englischen Menschheit überhaupt zu beschäftigen; ihre Gewohnheiten sind mit der Verinnerlichung idiotischer Hierarchien und in ihrer konkreten Ausprägung bis hin zum Hofhund schlicht widerlich. Diese Gattung, vom Lord bis zum Dienstmädchen, stammt aus einer untergegangenen Phase der Geschichte und verdient unsere Aufmerksamkeit nicht, zumal dort nicht, wo sie auch nichts mehr zu sagen hatte. «Was vom Tag übrig blieb» ist in äußerster Weise banal und nichtssagend.

Zuvor hatte ich vom gleichen Autor, aber mit deutlich größerem Vergnügen sein neuestes Werk «Klara und die Sonne» gelesen. Wenn zum Butler-Roman hin und wieder der Vergleich zu P.G. Wodehouses Butlerfigur Jeeves gezogen wurde, völlig zu Unrecht, wie gesagt, so ziehe ich hier eine Linie zu Ian McEwans Buch «Maschinen wie ich», das zwei Jahre früher erschienen ist, das Thema des Roboters beziehungsweise bei Ishiguro der Künstlichen Freundin dann doch deutlich anders behandelt, vor allem fehlen die gestopften Abhandlungen über die Möglichkeit, dass Roboter ein Bewusstsein haben könnten, ganz und gar, obwohl die Frage anhand von einem Experiment, das dann doch nicht stattfindet, durchaus abgehandelt wird. Ishiguro, der als englischer Schriftsteller gehandelt wird, weil er im Alter von 5 Jahren auf die Insel gekommen ist und seither dort lebt, bedient sich bei «Klara und die Sonne» durchaus einer japanischen Technik, indem er ein Schlüsselerlebnis einbaut, das sich der menschlichen Vernunft zur Gänze entzieht, was ich persönlich immer wieder als angenehm empfinde, denn die Vernunft allein macht uns keine Literatur; genau an diesem Element scheitert auch das Maschinen-Buch von Ian McEwan. Ansonsten handelt es bei «Klara und die Sonne» um einen hoch anständigen Roman, der zwar vollkommen konventionell geschrieben und gebaut ist, aber deshalb nicht weniger vergnüglich zu lesen ist.

Anfang Jahr erhielt ich ein Buchgeschenk, «Der Mann im roten Rock» von Julian Barnes, und ich habe mich im Lauf der Tage und Wochen auch durch diesen Schunken gearbeitet, obwohl mich nach ein paar Dutzend Seiten Verzweiflung und Entsetzen packten, als sich die Einsicht verdichtete, dass der Text tatsächlich bar jeglichen Konzeptes noch nicht einmal jenen Menschen mit einem halbwegs fassbaren Interesse behandelt, welcher der Mann im roten Rock gewesen war, nämlich der Arzt Jean Pozzi, der in der zweiten Hälfte des 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts in Paris gearbeitet hatte. Wichtiger als seine Hauptfigur sind für Barnes die dauernden Verweise auf Gestalten der adeligen Ganz- und Halbwelt, namentlich den Grafen de Montesquiou, von dem die Geschichte gnädigerweise alles vergessen hat, neben all den anderen Figuren des zeitgenössischen Affentheaters, inklusive Oscar Wilde und leider sogar Marcel Proust. Skandalgeschichtchen, vermurkste Abhandlungen über tatsächliche und mögliche homosexuelle Neigungen und Handlungen der handelnden Personen, Zeitungsgeschichten, Duelle zeichnen ein, nein, sie zeichnen eben kein Sittenbild, weder des damaligen Paris noch des damaligen London; stattdessen nimmt Julian Barnes immer wieder die Gelegenheit wahr, sich über den französischen und den englischen Nationalcharakter auszulassen. In diesem Punkt erreicht er sogar das Niveau des preisgekrönten Romans von Ishiguro. Davon abgesehen handelt es sich in erster Linie um mehr oder weniger schludrig recherchierte Geschichtchen über eine Reihe von Gesellschaftsfotos, welche über eine gewisse Zeitspanne einer französischen Schokoladenmarke beigelegt waren und welche «Der Mann im roten Rock» als einzig erkennbaren roten Faden durchziehen.


Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
15.06.2021

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