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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Schiffshavarien

Ende Februar diesen Jahres kamen bei einem Massenausbruch aus einem Gefängnis in Haiti fast 30 Menschen ums Leben; 200 Häftlingen gelang die Flucht. Was anschließend mit ihnen geschehen ist, entzieht sich meiner Kenntnis, ich weiß nur, dass es sich vermutlich um das Hochsicherheits­gefängnis Croix-des-Bousquets in Port-au-Prince handelte, dass in der Haftanstalt doppelt so viele Gefangenen deponiert waren als zugelassen und dass beim Gefangenenausbruch auch der Direktor des Etablissements zu Tode kam.

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Etwas später wurde im Landesinneren ein beim Ausbruch entflohener Bandenchef getötet. Bereits vor sieben Jahren hatten bewaffnete Angreifer mehrere Dutzend inhaftierte Komplizen aus der gleichen Anstalt befreit.
In Peru beschreitet die Tochter des wegen Mordes und Korruption verurteilten Gefangenen Alberto Fujimori einen anderen Weg: Sie lässt sich als Staatspräsidentin wählen und will als erste Amtshandlung diesen speziellen Gefangenen begnadigen. Allerdings wäre es nicht der erste an Vater Fujimori ausgeübter Gnadenakt; bereits 2017 wurde er vom damaligen peruanischen Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski freigelassen, aber das oberste Gericht hob diesen Entscheid knapp ein Jahr später wieder auf. Jetzt wird der 83-Jährige also von seiner Tochter definitiv befreit, ohne dass dabei der Direktor der Haftanstalt ins Gras beißen muss.

Man kann übrigens gegen Fujimori sagen, was man will oder sogar muss, aber eines steht fest: den jahrelangen Bürgerkrieg zwischen dem Staat und dem Sendero Luminoso und den Tupac-Amaru-Rebellen hat er beendet, und das ist ein Verdienst, wobei es auch ein Verdienst gewesen wäre, wenn der Sendero gewonnen hätte oder eben das Movimiento Revolucionario Tupac Amaru; einfach einen jahre- und jahrzehntelangen Bürgerkrieg hält kein Land nicht aus, so etwas muss zugunsten der einen oder anderen Seite beendet werden, und das hat Fujimori damals getan, selbstverständlich mit diktatorischen Methoden. Das scherte damals niemanden, nicht einmal seinen damaligen Gegner bei den Präsidentschaftswahlen 1990, den Schriftsteller Mario Vargas Llosa, der übrigens diesmal die Fujimori-Tochter Keiko unterstützte, weil ihr Gegner Pedro Castillo marxistische Positionen vertritt. So etwas erträgt der ehemalige Marxist Vargas Llosa seit Langem überhaupt nicht mehr.

Meine Haltung ist in Bezug auf Syrien heute eine ähnliche wie in Bezug auf Peru damals: Lange bevor man sich an die Aufarbeitung, im Idealfall sogar die Verurteilung von Schuldigen im Bürger­krieg macht, geht es darum, in diesem Land den Bürgerkrieg einzustellen. Die Präsidentschafts­wah­len vom 26. Mai waren ein Schritt in diese Richtung, auch wenn es sich laut Menschenrechts­organi­sa­tionen und vor allem den Verbündeten der Vereinigten Staaten um eine Farce handelte, aus wel­cher der falsche Kandidat als Sieger hervorging; Bashar al Assad erhielt 95% der Stimmen, wobei verschiedene Regionen und politischen Gruppen nicht an den Wahlen teilnahmen bezie­hungs­weise teilnehmen konnten. Trotzdem sehe ich darin eine wichtige stabilisierende Entwicklung, wobei mir absolut unklar ist, wie die Zukunft Syriens schon rein territorial aussehen wird, da die Erdo­pam­pel­muse wohl den Idlib-Zipfel des Landes nicht mehr herausgeben wird, während die Kurden ihre notorischen taktisch-strategischen Fehler erst in einer nächsten Etappe begehen werden. Aber ein bisschen Frieden, ein bisschen Infrastruktur und Organisation dürften in den nächsten Jahren wieder zurückkehren, sofern nicht dieses Islamisten-Virus eine weitere Mutation vorlegt und wieder ausbricht, bevor sich Institutionen und Strukturen einigermaßen gefestigt haben. Wenn der Prozess halbwegs normal läuft, nimmt auch der Flüchtlingsdruck in den umliegenden Ländern ab, mit Auswirkungen bis ins ferne Europa hinein.

Zum anderen Virus, das in der Zwischenzeit einigermaßen unter Kontrolle gebrachte Sars-CoV-2, habe ich am Samstag erstmals ein Interview mit eurem Haupt-Virologen Christian Drosten gelesen, welcher unter anderem die Idee eines Forschungsunfalls für ausgesprochen unwahrscheinlich hält, weil es viel zu umständlich wäre. Und eine absichtliche Veränderung durch einen Geheimdienst schließt er zwar nicht aus, wohl aber, dass so etwas vom Virologie-Institut der Universität Wuhan ausgehen täte, welche er als seriöses akademisches Institut bezeichnet. Dagegen äußert er die Vermutung, dass das Virus aus der Pelzindustrie stammt, wie schon bei Sars-1, wo es wissen­schaftlich dokumentiert sei, dass die Übergangswirte Marderhunde und Schleichkatzen gewesen seien. Beweisen könne man das nicht, weil die entsprechenden Abstriche in China nicht gemacht worden seien, aber die Vermutung liege nahe. Ansonsten äußert sich Christian Drosten eher gelassen, insofern, als in absehbarer Zeit bald alle Menschen eine Erstinfektion mit dem Virus hinter sich haben würden, egal, ob durch eine Impfung oder durch eine Ansteckung, und dass eine allfällige Zweitinfektion immer weniger heftig sei; zudem sei das Veränderungspotenzial durch Virus-Mutationen nicht derart gefährlich, wie es oft geschildert wird.

Und damit kann ich dieses Thema auch schon wieder verlassen und mich wichtigeren Dingen widmen, zum Beispiel der Einführung eines weltweit gültigen Mindestsatzes für Unternehmens-Gewinnsteuern von 15%, wie er sich im Moment abzeichnet. Da brat mir einer einen Storch, würden da verschiedene Veteranen verschiedener sozialer Bewegungen ausrufen, deren politisches Leben von der kategorischen Weigerung der Politik auf allen lokalen, nationalen und internatio­nalen Ebenen geprägt war, solch einen Mindeststeuersatz einzuführen. In der Regel muss man davon ausgehen, dass die Steuerjuristinnen der betroffenen Unternehmen, aber auch der betroffenen Steueroasen schon jetzt daran arbeiten, diese Regelung zu umgehen; ich habe eine schummrige Vorstellung vom Ausbau der schon jetzt unermesslichen Anzahl an Briefkastenfirmen, unter anderem in Joe Bidens Heimatstaat Delaware, aber selbstverständlich auch auf den Karibikinseln, in Panama, auf der Isle of Man, den Jerseys, in Irland und in der Schweiz und in den Newcomern auf diesem Gebiet, zum Beispiel den Niederlanden. Trotzdem: Hier ist ein wesentlicher Fortschritt in einem sonst äußerst langsamen internationalen Rechtsprozess erzielt worden, natürlich immer unter der Voraussetzung, dass er auch tatsächlich vollzogen wird. Nun könnte man sich also vorstellen, dass bei Gelegenheit auch andere Gebiete normal reguliert werden, die normal zu regulieren sind, zum Beispiel im Bereich der Schifffahrt. Im Moment sinkt vor Sri Lanka ein Containerschiff mit Chemikalien und Plastik, das in Singapur registriert ist. Beliebt sind andere Registrierungsorte, zum Beispiel Panama, wo das geltende Seerecht für die Betreibergesellschaften am günstigsten ist, abgesehen davon, dass Betriebs- und Nutzer-Gesellschaft in der Regel getrennt sind, auch wenn sie an und für sich zusammen gehören. Auch hier sind Lücken im internationalen Recht zu stopfen. Allerdings betrafen in diesem Jahr laut Wikipedia die meisten Schiffsunfälle Flüchtlingsboote, gut 25 Stück bisher im Jahr 2021; daneben kenterte der georgische Frachter Artvin im Schwarzen Meer, die Ever Given im Suezkanal kenterte zwar nicht, blockierte aber eine wichtige Welthandelsarterie während einer Woche; die Havarie des U-Boots Nanggala ereignete sich im April, die erwähnte X-Press-Pearl geriet am 20. Mai in Brand, am 27. Mai kollidierte in Japan der Frachter Byakko mit dem Tanker Ulsan Pioneer, neben verschiedenen kleineren Unfällen, unter anderem auf Seen und Flüssen Afrikas.

Daneben weiß ich nicht, ob das schlechte Abschneiden der Links-Partei in Sachsen-Anhalt nur ein vorübergehendes Phänomen war oder ob es ihr tatsächlich ans Lebendige geht. Nach meinen Beobachtungen hat man in dieser Partei immer wieder versucht, die positiven Aspekte der DDR-Vergangenheit, die es ja trotz allem gab in einigen Bereichen, namentlich bei der Bildung, aber wohl auch beim gesellschaftlichen Zusammenhalt, aufrecht zu erhalten und gegen die negativen Aspekte des ins Land geschwemmten Kapitalismus zu verteidigen beziehungsweise aus diesen beiden Linien eine fortschrittliche Tendenz zu definieren. Ich hatte auch den Eindruck, dass diese Mischung durchaus eine Brücke zur Allianz für Deutschland darstellte, vor allem für jene Men­schen, die keine fortschrittliche Politik wollen, sondern den wegen der Abschottung in der DDR implizit vorhandenen Nationalismus fortsetzten. Ich kenne mich in der programmatischen und bei den konkreten Forderungen der Linken nicht so gut aus, dass ich sie richtig beurteilen könnte und im Hinblick auf die Resonanz bei der Bevölkerung einschätzen könnte. Auf jeden Fall haben sich die Zeiten schon wieder geändert, und wie sich die Linkspartei unter den neuen Umständen darin hält und verankert, das ist für mich im Moment sehr ungewiss, nicht zuletzt deswegen, weil die Zeiten die Sphäre des Politischen als solche verändert haben – die Parteien und Programme sind in zentralen Punkten weitgehend deckungsgleich sozialdemokratisch geworden, bei der Allianz für Deutschland halt nationalsozialdemokratisch, was allerdings wegen der zugrunde liegenden Globalisierung ein völliger Irrsinn ist, aber wem sage ich das.

Ihr selber in Thüringen haltet ja eure Landtagswahlen wohl am gleichen Tag ab wie die Bundestagswahlen, zusammen mit Mecklenburg-Vorpommern, da bleibt euch und euren Parteien noch etwas Zeit für verschiedene schöne Kapriolen. Dazu schon jetzt viel Spaß. Viel spannender wird es aber nächstes Jahr in Frankreich werden, wo die Nationalversammlung neu gewählt wird und gleichzeitig die Präsidentschaftswahl stattfindet. Bei den Präsidentschaftswahlen ist mit einer Wiederholung der Stichwahl von 2017 zwischen Marine Le Pen und Emanuel Macron zu rechnen, sofern nicht ein neues Sternchen am Himmel auftaucht, so wie Macron selber vor vier Jahren mehr oder weniger aus dem Nichts die Bühne im Sturm eroberte. Aber die große Frage wird jene sein, ob sich die Bewegung von Macron, La République en Marche, halten beziehungsweise in welchem Ausmaß sie sich konsolidieren kann; sodann richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Sozialistische Partei, die vor vier Jahren mehr oder weniger in sich selber zusammenfiel, zusammen mit François Hollande; nächstes Jahr muss sich zeigen, ob ihre Basisstruktur noch etwas wert ist beziehungs­weise wieviel sie wert ist. Von der traditionellen bürgerlichen Rechten ist im Moment nicht besonders viel zu erwarten mit all den Rangeleien und Zersplitterungen; immerhin sind hier Verschiebungen mit, zu oder von der République en Marche fast jederzeit möglich. Von den Le-Pen-Nationalisten erwarte ich keine größeren Schübe, und links außen ist wohl erst nach der Ära von Jean-Luc Mélenchon wieder mit Veränderungen zu rechnen. Die interessanten Entwicklungen finden also wohl in der Mitte statt.


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Albert Jörimann
08.06.2021

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