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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Am Grunde der Moldau wandern die Steine

Manchmal braucht es einen Vollpfosten, um der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen, bin ich versucht zu sagen angesichts der Welle von diplomatischen Kontakten, die sich im Nahen Osten zwischen Israel und den wahabitischen Staaten anbahnen.



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Aus neutraler Sicht #38/2020




Was man davon halten soll, also ins­be­sondere in Bezug auf die Nachhaltigkeit, aber auch im Hinblick auf die Frage der palästinensischen Bevölkerung, ist noch nicht wirklich klar, mindestens für mich nicht, aber die Tatsache, dass im Nahen Osten wieder einmal die Steine am Grunde der Moldau ins Wandern geraten sind, das gefällt mir trotz allen Vorbehalten.

Vorbehalt eins: Kashoggi-Mörder, Jemen-Schlächter, Frauenverächter, Financier und Beförderer des globalen Islamismus und in Teilen der terroristischen islamistischen Netzwerke – die Liste der substanziierten Vorwürfe an Saudiarabien und die in seinem Windschatten daher fahrende Flottille der kleinen Golfstaaten mit Ausnahme von Qatar ist überwältigend. Im Vergleich dazu nehmen sich die Vorwürfe an Israel geradezu lächerlich aus, es gibt sie aber trotzdem:

Vorbehalt zwei: Anhaltende und anhaltend rechtswidrige Landnahme in besetzten Gebieten, anhaltender Krieg mit den Palästinenserinnen, orthodoxer Fanatismus – wäre Israel nicht ein derart kleines Land und wäre seine Religion nicht die am wenigsten expansive in diesem ganzen Konflikt, müsste man sich Gedanken machen bei der Vergabe von Zensuren, ganz abgesehen davon, dass jedes Land, das sich einen Premierminister wie den Netanjahu-Bibi leistet, zum Vornherein unter Generalverdacht steht.

Vorbehalt drei: Die Palästinenserfrage. Im Grunde genommen ist die permanente Annexion von Land in den besetzten Gebieten nichts anderes als die Fortsetzung der ursprünglichen Annexion, auf welcher der Staat Israel beruht. Mag sein, aber wenn es auch für die Kraft und den Durchhaltewillen der Bevölkerung spricht, wenn sie ihren Kampf fünfzig, achtzig, hundert Jahre lang nicht aufgibt, was übrigens durchaus an die zweitausend Jahre dauernde Geschichte der Jüdinnen und Juden denken lässt, so muss man doch wieder mal daran erinnern, dass es keine Antwort auf diese Frage gibt, welche eine Auslöschung Israels beinhaltet. Darauf hatten wir uns schon vor zwanzig Jahren geeinigt, also ich meine jetzt nicht uns in Europa, sondern die Akteure vor Ort. Also würden wir uns bitte auch von Seiten der Palästinenserinnen und der sie unterstützenden Kräfte mal daran halten, und das heisst: Auflösung der permanenten Flüchtlingslager, Errichten palästinensischer oder vielleicht auch gemischt palästinensisch-israelischer Einrichtungen und Siedlungen wo auch immer – von mir aus muss das nicht mal in Westjordanien sein, es gibt meines Wissens genug Land­reserven in der Umgebung, die mit genug Kapital und dem vorhandenen Ingenieurwissen, namentlich in Israel, für eine neue Art von Besiedlungspolitik geeignet wären.

Vorbehalt vier: Die Iraner und die Hisb'Allah. Auch sie schrecken nicht zurück vor Mord und Totschlag, mischeln im Jemen mit, verachten die Frauen und finanzieren und fördern ihre Milizen, die allerdings weniger programmatisch auf Terror und Missionieren durch Sprengstoffanschläge ausgerichtet sind. Auch wenn sie auf der Abschussliste der US-Amerikaner stehen, sind sie deswegen nicht von aller Schuld freizusprechen, was im Übrigen auch nicht das Ziel sein kann, weder von Weltpolitik insgesamt noch des unabhängigen und neutralen Kommentars aus der Schweiz. Aber im Zusammenhang mit dem saudiarabisch-israelischen Diplomatiewunder bilden Iraner und Hisb'Allah einen Faktor, der den Ausgang noch erheblich beeinflussen kann. Beziehungsweise ihn bereits beeinflusst hat, denn mit Garantie haben die US-amerikanischen Unterhändler den Saudiarabiern diesen Deal als wirksame Waffe gegen den Iran verkauft. Mal sehen, ob die eine Gegenwaffe dafür entwickeln – oder ob sich angesichts der sich abzeichnenden neuen Lage auch hier mal ein paar Steine am Grunde der Moldau bewegen.

Sollte die Entspannung zwischen Sunniten und Jüdinnen und Juden tatsächlich von Dauer sein, so hat sie auch Auswirkungen auf sämtliche anderen Aspekte und Vorbehalte, die sich dann mehr oder weniger von Grund auf neu formieren müssten oder könnten, und das ist in meinen Augen eine bei weitem vorteilhaftere Perspektive als alle anderen, welche darauf beruhen, in einzelnen Aspekten Recht zu haben. Recht haben ja immer alle, im Nahen Osten wie überall sonst auf der Erde; aber es kommt auf die tatsächlichen Entwicklungen an, und diesen Punkt will ich dem US-amerikanischen Volltrottel gerne an seine Hühnerbrust nageln.

Dass im Moment derart viele Vollpfosten auf Sendung sind, ich spreche jetzt von Staats­ober­häup­tern und Politikerinnen, am schönsten von allen wohl der serbische Ministerpräsident Vukic, der seine Meinung je nachdem, mit welchem Geldgeber er gerade zu Mittag gespeist hat, ändert, wenn nötig auch vier Mal pro Tag, aber der Urban Orban oder der erwähnte Netanjahudi oder der Erdo­pimpel oder Jair Bolsonaro oder eben der aktuelle amerikanische Präsident stehen ihm nicht viel nach. Dass also derart viele Vollpfosten in der Öffentlichkeit auftreten, lässt nur den Rückschluss zu, dass die Vollpfosterei ein erträgliches Geschäft ist, soweit sie in der Politik vollzogen wird und sich auf das Inland richtet. Politik erscheint somit als valable Möglichkeit, aus Dummheit Geld zu schlagen. Es muss nicht gerade sein wie in Bulgarien, wo sogar die nationale Vereinigung des Industriekapitals sich über Erpressung und illegale Übernahmen von Firmen durch die Staatsmafia beschwert. Hier ist es derart drastisch, dass die Bevölkerung seit Monaten gegen die Regierung auf die Straße geht, und ein Nebeneffekt dieser katastrophalen Lage ist es wohl auch, dass die Stim­mung demnächst gegen die Europäische Union umkippt, wenn die nicht in den nächsten Wochen alle Unterstützungskanäle verstopft. Aber eben, abgesehen von diesem drastischen Fall scheint sich eine dumme und damit automatisch auch nationalistische Argumentation voll zu lohnen. Dies wie­derum wirft die Frage auf nach zwei Elementen, welche in der Physik als Gegenkräfte zur popu­listisch-nationalistischen Dummheit bezeichnet werden, nämlich zum einen die Jugend und zum anderen die Universitäten. Geht hier noch was? Mindestens in Ungarn haben sich viele Leute gegen die Usurpation der Leitung der Universität für Theater- und Filmkunst gewehrt. Na gut, die Künst­lerinnen und Künstler, aber sonst? Bei den Politikwissenschaften sind die Dozentinnen und Studentinnen vielleicht unterdessen ebenso verwirrt wie die Akteure, wer weiß. Die Wirtschafts­fa­kultäten bereiten ihre Absolventen auf den Eintritt in die herrschenden Strukturen vor. Die Natur­wis­sen­schaften bieten zwar die zuverlässigsten Zuflucht für rationales Denken und Vorgehen, haben anderseits nicht viel zu schaffen mit den sozialen und eben politischen Fragen, mit denen die Gesellschaften sich auseinanderzusetzen haben.

In Russland beschäftigt man sich dertweil mit anderen Fragen, zum Beispiel muss man annehmen, dass Wladimir Putin erwägt, über Sibirien flächendeckend Nowitschok abzuwerfen, nachdem seine Partei Einiges Russland dort mit Nawalnys Wahlmethoden von der Mehrheit verdrängt wurde. Nein, das erwägt Putin natürlich nicht, war nur Spaß, auch wenn der kleine Zar offenbar selber nicht viel Spaß versteht, sonst würde er seine politischen Gegner nicht schon im Kleinstadium ermorden lassen. Das verstehe ich nach wie vor nicht. Dass Macht ein relativ labiles Gefüge ist, weiß jede Politikstudentin, und so ist es wohl auch in Russland, dessen Strukturen halt immer noch jung sind, wie ich hier immer wieder betone; aber umso mehr würde es darauf ankommen, diese Strukturen auch mal dem Stresstest einer zahlenmäßig stärkeren Opposition auszusetzen. Oppo­sition bedeutet in der Regel nicht automatisch Umsturz, Opposition bedeutet in der Regel einen sozialdemokratischen Machtausgleich in Zeiten der globalen Vollautomation. Weshalb so etwas in Russland so besonders schwierig sein soll, das will mir nicht in den Kopf. Ebenso wenig will mir in den Kopf, weshalb ein paar angesäuselte Starkdenkerinnen bei den Anti-Corona-Demonstrationen immer wieder «Putin» rufen beziehungsweise vielleicht dessen Intervention fordern, um das menschenverachtende Merkel-Regime endlich zu stürzen. Noch nicht mal der Genuss von 5 Litern Russia Today innerhalb von drei Stunden kann einen normalen Menschen zu derartigen Torkeleien bringen. Mit anderen Worten: Diese Sorte von Dummheit muss in den Starkdenkerinnen schon vorher entstanden sein. Über die biologischen Grundlagen für solche Kurzschlüsse müsste man mal einen biochemischen Bericht verfassen.

Ich weiß nicht, ob allgemein bekannt ist, dass auch in Afrika eine Mauer gebaut werden soll, die Planung lief vor 15 Jahren an. Es handelt sich um eine große Mauer, und zwar um eine große grüne Mauer, die gegen die Verwüstung durch die Sahara errichtet werden sollte. Heute sind allerdings erst 4 Prozent der geplanten Oberfläche dieser Mauer fertig gebaut. Sie sollte sich 8000 Kilometer von Senegal bis nach Djibouti erstrecken. Laut dem Zwischenbericht der UNO-Konvention zum Kampf gegen die Verwüstung hinkt man vor allem in Mali, Nigeria, Mauretanien und auch in Djibouti hinter dem Plan her, wobei hier oft auch die prähistorischen Banditen unter dem Banner des Islam eine Rolle spielen, die von Tuten und Blasen und vor allem Säen und Ernten keinen Schimmer haben. Eine andere Rolle kommt den Geldgebern zu, deren Beiträge offenbar nicht so fließen wie geplant und zugesagt; und dann kann man wie üblich auf der Empfängerseite davon ausgehen, dass die Mittel mindestens zum Teil nicht an den ursprünglichen Bestimmungsort fließen, sondern auf dem Bankkonto der Eliten landen, welche sich diese Sorte der Zweck­ent­fremdung übrigens gerne mit einem antikolonialistischen Jargon schönreden. Am besten schneidet beim Bau dieser großen grünen Mauer übrigens Senegal ab, damit dies auch noch gesagt ist.

Einen weiteren Beitrag habe ich nur noch schemenhaft in Erinnerung: irgendeine Instanz im Kongo fordert die Herausgabe der sterblichen Überreste des ersten Ministerpräsidenten des unabhängigen Kongo, Patrice Lumumba. Diese sterblichen Überreste bestehen in einem Zeigefinger, den sich die belgische Regierung oder der belgische König hat liefern lassen als Beweis dafür, dass Lumumba tatsächlich umgebracht wurde von gedungenen Mördern, die im Dienste Belgiens und der Vereinigten Staaten von Amerika standen. Wenn ich es mir genau überlege, muss ich mich wohl etwas zurückhalten bei meiner Abscheu vor Figuren wie Bin Salman oder Putin, wenn ich mir das Tätigkeitsprogramm der CIA vergegenwärtige. Und wenn man mich fragt, ob das denn heute besser sei, dann lautet die Antwort: besser?, keinesfalls. Bloß moderner. Bei Bin Salman könnte die Familie von Kashoggi mal den Antrag auf Herausgabe der sterblichen Überreste ihres Mitglieds Jamal stellen, der Bin Salman hat doch sicher auch von seinen Killern einen echten Beweis für die tatsächlich vollbrachte Tötung verlangt.





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Albert Jörimann
15.09.2020

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