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Rentenkampf in Frankreich - Worum geht es bei der geplanten Reform?

Seit Wochen kämpft in Frankreich eine landesweite soziale Bewegung gegen die Rentenreformpläne der Regierung. Nicht zuletzt anlässlich des auch in Deutschland dieses Jahr anstehenden weiteren Umbaus des Rentensystems, lohnt ein Blick über den Rhein auf die Rente in Frankreich.



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Wochenlang fahren in Paris kaum U-Bahnen, Trams und Busse, wütende Lehrer*innen werfen Schulbücher vors Rektorat, Handelshäfen und Raffinerien werden bestreikt, im Gesundheitssystem, der Feuerwehr, auch der Polizei legen Angestellte die Arbeit nieder, der Strom wird aus Protest abgestellt, der Eiffelturm geschlossen.1


Der Kampf um die Rente in Frankreich


Wer sein Arbeitsleben in Frankreich verbringt, darf mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, einen materiell abgesicherten Altersruhestand verbringen zu dürfen. Nur 3-5 % der Rentnerinnen und Rentner leben hier in Altersarmut. In Deutschland sind es mehr als 10 Prozent.2


Riesterrente und private Pensionsfonds sind dafür übrigens nicht bzw. weit weniger notwendig. Das französische gesetzliche Rentenversicherungssystem ist so umfassend, dass viel weniger in kommerziellen Rentenfonds vorgesorgt werden muss. Auch das steht in deutlichem Unterschied zu Deutschland oder Großbritannien, wo die gesetzliche Rente alleine zum Leben nicht reicht und privat ergänzt werden muss.


Das hohe Rentenniveau lässt sich Frankreich etwas kosten. 14% des Bruttoinlandsprodukts, des jährlichen Reichtums, fließen in die Rente. Nach Griechenland und Italien gehört Frankreich damit zu denjenigen Ländern, die anteilig am meisten für ihre Rentnerinnen und Rentner ausgeben. Auf der Rangliste, die die OECD führt, erscheint Frankreich als überdurchschnittlich renterinnen- und renterfreundlich.


Aber schauen wir noch etwas genauer hin. Bei allgemein hohem Niveau gibt es zwischen den Französinnen und Franzosen auch deutliche Unterschiede bei der Rente. Anders als in Deutschland gibt es kein allgemeines Rentenpunktesystem, das jenseits der Pensionäre im Staatsdienst für die meisten Berufsgruppen gelten würde. Die Rente wird in vielen Bereichen berufsgruppenspezifisch in Tarifverhandlungen ausgezankt und gegen andere Arbeitsbedingungen wie Lohnhöhe, Arbeitszeiten und so weiter abgewogen.


Gerade im öffentlichen Dienst gibt es ein ganzes Geflecht unterschiedlicher Rentenkassen, sogenannter Spezialregime, deren Sonderkonditionen aus den vergangenen Arbeitskämpfen historisch gewachsenen sind. Dass die Bahner der SNCF beispielsweise schon mit jungen 52 Jahren in Rente gehen dürfen, stammt noch aus Zeiten, in denen ihr Job mit schnellem körperlichen Zerschleiß einher ging. – Solche altgewordenen Sonderkonditionen geißelt die Regierung als Privilegien und sie sollen mit der Reform wegfallen.


Die grundliegende Idee des zukünftig geplanten Rentensystems ist, die gewachsenen Kompromisse und Privilegien zu entsorgen. Einheitlichkeit soll mehr Gerechtigkeit bringen.


Die in vielen der französischen Rentenkassen übliche Bemessung der Rentenhöhe nach Durchschnittseinkommen der besten Jahre des Berufslebens soll beendet werden. Nicht mehr die besten Arbeitsjahre sollen zählen, sondern das aufaddierte Einkommen. Dafür soll es ein Rentenpunktesystem geben. Wenn bisher beispielsweise die bestbezahlten 20 Berufsjahre zu einem Durchschnittseinkommen zusammengezählt werden, von dem man dann 75% als Rentenanspruch erhält, soll nach der Reform das Einkommen des gesamten Berufslebens gleichmäßig in Rentenpunkte umgerechnet werden. Das könnte tatsächlich Menschen zugutekommen, die ihr ganzes Leben nicht im Einkommensniveau aufsteigen.


Für eine breite Masse der Bevölkerung stellt sich aber die Frage, ob hinter der systemischen Umstellung auf ein allgemeines Punktesystem nicht der Versuch der Regierung steckt, breite Sozialkürzungen durchzusetzen. Viel Ungewissheit herrschte, mindestens bis Premierminister Philippe am 11. Dezember überhaupt erstmal die konkreteren Pläne der Regierung der Öffentlichkeit vorstellte.


Hören wir einen Ausschnitt seiner Rede, in der er auch dem Verdacht der allgemeinen Rentenkürzungen begegnet.


„Anreize, länger zu arbeiten“


Die Spezialregime im öffentlichen Dienst sollen verschwinden und in eine Einheitsrente aufgelöst werden.


Gegen einige Berufsgruppen ließ sich das schon vor dem Generalstreik nicht durchsetzen. Blickt man beispielsweise auf die französischen Feuerwehrleute, findet man ein niedrigeres gesetzliches Mindesteintrittsalter bei 57 Jahren statt der sonst geltenden Rente ab 62. Dafür gab es seit 1990 keine Anpassung der sogenannten Feuerprämie – einer Risikopauschale - trotz noch steigender beruflicher Gesundheitsrisiken. Die Regierung hat hier noch vor Beginn des Streiks doch wieder Ausnahmen in den Entwurf zur Einheitsrente schreiben müssen.


Bei den erwähnten Privilegien der Bahner hingegen stößt die Vereinheitlichung selbst bei vielen Gegnerinnen und Gegnern der Regierungspläne auf Sympathie. Und dennoch machen sie mobil gegen die Reform. Ein Grund dafür ist das, was wir Premier Philippe am Ende unseres Ausschnitts haben sagen hören. Nicht nur den Bahnern, sondern den Franzosen im Allgemeinen sollen Anreize geschaffen werden, länger zu arbeiten. Anreize, länger arbeiten zu müssen? Was heißt das genau? Macron hatte im Wahlkampf versprochen, das Renteneintrittsalter NICHT anzufassen.


Die Regierung will nun ein sogenanntes Scharnieralter bei 64 Jahren einführen. Wer mit 64 Jahren statt wie bisher 62 in Rente geht, wird belohnt. Wer von seinem Recht mit 62 Gebrauch macht, mit Abschlägen bestraft. Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters also, ohne formale Erhöhung des Renteneintrittsalters. Ein Trick. So jedenfalls sahen das viele und das war entgegen den Wahlkampfversprechungen. Und auch entgegen der Erwartung der eigentlich mit der Regierung kollaborierenden Großgewerkschaft CFDT. Die unterstützt das Projekt einer universalen Rente nach Punkten, weshalb ihre Mitglieder anfangs beim Generalstreik gar nicht dabei waren. Doch nach Premierminister Philippes Rede sah ihr Chef Laurent Berger eine rote Linie überschritten.


Ein Generalstreik auf breiter Basis


Nachdem die französische Regierung überraschend ankündigte, das Renteneintrittsalter zu erhöhen, veränderten sich die Fronten. Der Gewerkschaftsbund CFDT, der einstige Bündnispartner der Regierung, wechselte das Lager und mobilisierte fortan mit zum Streik. Nun hieß es Regierung gegen Straße. Und hinter den nun vereinten Gewerkschaften standen laut Meinungsumfragen auch eine konstante Mehrheit der Französinnen und Franzosen.3


Die starke Mobilisierung, die Bestreikung des öffentlichen Personennahverkehrs, die Großdemos, die teuer kostenden Blockaden von Handelshäfen, Raffinerien, Depots – die Regierenden standen unter Druck und machten vereinzelte Zugeständnisse: an die in Frankreich vergleichsweise schlecht bezahlten Lehrer und Lehrerinnen zum Beispiel. Die verdienen während ihres Arbeitslebens nur etwa halb so viel, wie in Deutschland. Das würde im geplanten Rentensystem entsprechend magere Rentenpunkte bringen. Nach Gewerkschaftsberechnungen stünden 300-600€ Rente im Monat auf dem Spiel, die diese Geringverdiener dann auch im Alter weniger hätten – verglichen mit ihrem jetzigen Sonderrentensystem, dass die geringen Bezüge im Alter einigermaßen auffängt. Auch für diese Gruppe musste die Regierung also doch wieder Sonderregelungen in den Entwurf für das geplante einheitliche Rentensystem einbauen. Ein Einheitssystem scheint bei unterschiedlichen Ausgangslagen eben doch nicht allgemein gerechter.


Am 17. Dezember riefen in Frankreich alle Gewerkschaften zur Großdemonstration. Wir waren in Paris auf der Straße und haben Menschen aus unterschiedlichen Berufsgruppen gefragt, warum sie demonstrieren. Zu Beginn erklärt sich ein Lehrer.


Punktesystem ja, Arbeitszeitverlängerung nein.


Dem Druck der mittlerweile vereinten Straße gegen ihre Rentenreform begegnete die französische Regierung im Wesentlichen mit Aussitzen. Premierminister Philippe zeigte harte Kante, spielte die Streikenden im öffentlichen Nahverkehr gegen die Weihnachtsreisenden aus und forderte eine Weihnachtsstreikpause. Die Gewerkschaften sahen dahinter eine Strategie, ließen sich nicht beirren und setzten ihren Kampf auch über die Feiertage hinweg fort. „Weihnachten fällt dieses Jahr aus“ war auf einer angesprühten Hauswand in Paris zu lesen.


Nach Ende der Feiertage startete die Regierung im neuen Jahr Bemühungen, die vergraulten Bündnispartner der CFDT-Gewerkschaften zurückzugewinnen. Parlamentspräsident und Macronist Richard Ferrand schlug eine Verringerung der Rentenabschläge beim Eintritt vor 64 Jahren als Kompromiss zwischen Regierung und CFDT vor. Der CFDT-Chef wiederrum machte eine Bewegung auf die Regierung zu und legte wenn auch keinen inhaltlichen, so zumindest einen Prozessvorschlag vor. Er wolle ja Einsparungen in den Rentenkassen, nur eben nicht mit einer Erhöhung des Eintrittsalters, die die CFDT ja von Anfang an abgelehnt hatte. Das allgemeine Rentensystem nach Punkten, Kern der Regierungspläne, unterstütze man aber weiterhin.


Die Regierung schlug in die ausgestreckte Hand der CFDT ein und strich das Scharnieralter, also die de facto Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 zumindest vorläufig und dem Wortlaut nach aus dem Entwurf. Die gewerkschaftlich Organisierten stehen damit seit dem 11. Januar wieder auf unterschiedlichen Seiten der Barrikaden. Einige bei der linken Großgewerkschaft CGT organisierte Angestellte der französischen Elektrizitätsgesellschaft kappten gar aus Protest für einige Minuten die Stromversorgung des Hauptstadtbüros der abtrünnigen CFDT. Wenn die Regierung die Sklaverei wieder einführen wöllte, die CFDT würde noch um einen Kompromiss beim Gewicht der Ketten verhandeln, kommentierte die linke Boulevardzeitung FAKIR. Hören wir der Chef des großen linken Gewerkschaftsbunds CGT Philippe Martinez zum Verhältnis zwischen den beiden größten Gewerkschaftsbünden Frankreichs:


Das Interesse der Pensionsfonds: vom Umlageverfahren zur „Kapitalisierung“


Nicht nur der linke Gewerkschaftsbund fordert eine völlige Zurücknahme der Pläne zur Einheitsrente nach Punkten. Ob in der SPD-Schwesterpartei Parti socialiste, den französischen Grünen, der Bewegungspartei La France Insoumise oder den Kommunisten: die französische Linke sieht in den Regierungsplänen ein Geschenk an die Versicherungswirtschaft.


Rechten und Neoliberalen ist ja der Nachkriegskompromiss des französischen Sozialstaats, die berühmte sécurité sociale, seit jeher ein Dorn im Auge. Einerseits geht es da um die internationale Wettbewerbsfähigkeit, die durch Drücken der Lohnkosten verbessert werden soll. Andererseits gibt es die Lobby der Pensionsfonds, namentlich der größten Vermögensverwaltung der Welt, BlackRock. Die kennen wir in Deutschland zum Beispiel in der Person Friedrich Merz, der für den deutschen Ableger des Giganten in Frankfurt am Main arbeitet. Die französischen BlackRock-Manager trafen sich in der jüngeren Vergangenheit mit Macron, manche sagen spitz, sie seien bereits in den Elysee-Palast eingezogen. Den Lobbyisten wird ein Interesse an Rentensenkungen nachgesagt, weil das die Leute zur privaten Vorsorge nötigt. Auch der Arbeitsgeberbund findet solcherart Wohlfahrtsmix nicht schlecht, gibt es doch bei privater Vorsorge keinen paritätischen Arbeitgeberanteil. Die Kosten tragen einzig und allein die Arbeitenden selbst.


Im Folgenden hören wir Adrien Quattennens, parlamentarischer Geschäftsführer der Linkssozialdemokraten von La France Insoumise.


„Vom französischen Nachbarn lernen“ – der Internationalismus der sogenannten Reformer und Rentenexperten


Bleibt abschließend noch ein Ausblick: Bisher war Monsieur Delevoye, dieser Hochkommissar für die Rentenreform, den man vielleicht den französischen Bert Rürup nennen könnte, noch nicht so maßgebend wie sein deutscher Kollege im Ausbau der Versicherungsindustrie durch Abbau der gesetzlichen Rente. Ob der französischen Regierung das noch gelingt, ist weiterhin offen, hängt weiterhin vom Verlauf des politischen Kräftemessens in den kommenden Wochen ab.


Vielleicht wird es da ja eine gewisse Ausstrahlungskraft auch nach Deutschland geben. Auf Seiten der sogenannten Rentenexperten jedenfalls gibt es die schon. Die deutsche Rentenkommission traf sich im März 2019 mit dem französischen Hochkommissar für die Rentenreform. „Vom französischen Nachbarn lernen“, lautet der Titel der entsprechenden Pressemitteilung.4 Die so inspirierten Vorschläge will die deutsche Rentenkommission bis Ende März vorlegen.


Zum Weiterlesen


Wie so häufig in der Auslandsberichterstattung ist der journalistische Rechercheaufwand groß und die Ressourcen begrenzt. Viele Berichte beschränken sich auf die Effekte des Streiks (Stillstand, Krawalle, spektakuläre Aktionen usw.) und bieten wenige Kontextinformationen an, die über die Verlautbarungswiedergabe hinausgehen. Wer sich in deutscher Sprache weiter informieren will, könnte bei folgenden Adressen anfangen:




Den Themensound " À cause de Macron " haben wir einer kreativen Parodie aus dem Umfeld der französischen Sektion von attac entliehen.





  1. In dieser Liste fehlen unter anderen die Angestellten der Pariser Oper, deren wunderbaren Gesang während eines Demonstrationsumzuges wir zu Beginn des Beitrags hören.


  2. https://www.oecd-ilibrary.org/social-issues-migration-health/pensions-at-a-glance-2019_b6d3dcfc-en


  3. Umfrage vom 13.01.2020: https://harris-interactive.fr/opinion_polls/observatoire-de-la-mobilisation-contre-la-reforme-des-retraites-8e-vague/


  4. https://www.verlaesslicher-generationenvertrag.de/aktuelles/2019-03-29-vom-franzoesischen-nachbarn-lernen-kommission-verlaesslicher-generationenvertrag-zum-austausch-mit-dem-franzoesischen-hochkommissar-fuer-die-rentenreform-in-paris/ [30.01.2020]






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Max und Mariette
05.02.2020

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