Aktuell

Das Programm von heute
00:00 The New Noize
Nice Boys Don't Play Rock 'n' Roll
05:00 Offene Sendefläche
nach § 34 ThürLMG
09:00 Thüringer Lokalrunde
Lokalradios im Austausch
10:00 F.R.E.I.– Jazz
Eine Stunde Jazz
11:00 N.I.A. - nackt im aquarium
feministisches auf Radio F.R.E.I.
12:00 handmade
Regionale Musik
13:00 Sondersendung
"what could have been"
14:00 Radio Bounce
Zu Fett fürs Ballett
15:00 A-Z!
Das Informationsmagazin!
17:00 Osmose
Sendungen Freier Radios
18:00 Thüringer Lokalrunde
Lokalradios im Austausch
19:00 F.R.E.I.– Jazz
Eine Stunde Jazz
20:00 Südnordfunk
Aus Print mach mehr - iz3w on air
21:00 Hitbattle
Musikdomino
22:00 Jamaica Feelings
Reggae, Ska, Dub

"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - London

Am Mittwoch, 10. Oktober, wurde der Gestank erstmals in der Nähe von Wapping wahrgenommen, etwas östlich vom Tower of London. Schnell breitete er sich dem Fluss entlang aus.



artikel/Aus neutraler Sicht/J_KW_42_200px.png
> Download Bei der Waterloo Bridge hatten sensible Nasen den Eindruck, man hätte Chlor mit Desinfektionsmittel und beides mit Batteriesäure gemischt. Dann ging es weiter zum Parlamentsgebäude und zu den Bahnhöfen Victoria und Paddington. Wissenschaftlich bestätigt wurde die zugrunde liegende Luftverschmutzung von der London School of Economics, namentlich von Professor Thomas Schmid, Entschuldigung: Smith vom Institut für Umweltgeographie. Allerdings konnte er weder die Substanzen noch die Ursachen benennen. Als aber das Luftverschmutzungsinstitut am King's College befragt wurde, war der oberste Luftqualitätsüberwacher Timothy Baker in der Lage zu versichern, dass am Mittwoch ein unsauberer Luftstrom vom Kontinent her über London geweht hatte, und zwar namentlich mit Stoffen aus Deutschland und Österreich, im Besonderen gekennzeichnet durch den hohen Nitratgehalt aus den Fahrzeugabgasen in den beiden Ländern.

Die zwei Wissenschaftler bezeugten mit anderen Worten eine starke Belastung der Atemluft in London, wobei auch die in der Stadt selber erzeugten Emissionen eine Rolle spielten, neben dem relativ hohen Schadstoffgehalt der Strömung vom Kontinent. Was dagegen den Gestank anging, waren beide nicht in der Lage, irgendeine Angabe zu machen. Timothy Baker äußerte sich dahin gehend, dass die Ursachen für unsaubere Luft und jene für Gestank manchmal überhaupt nichts miteinander zu tun hätten. Es sei aber durchaus möglich, dass der Luftstrom vom Kontinent stinkende Industrieabgase enthalten habe. Bloß beweisen oder nachweisen lasse sich das nicht.

Diese extrem wichtige Information, also dass die Deutschen und die Österreicher Stinkgas nach England schicken, das man erst noch nicht nachweisen und auch nicht chemisch bestimmen kann, erschien am Donnerstag, dem 11. Oktober, und zwar im englischen «Independent», und zwar unter dem Titel: «Mysterious smell across London probably came from Europe, expert says», der mysteriöse Gestank in London stammt laut Angaben eines Experten aus Europa. Nun sagt der Experte zwar, es sei möglich, dass der mysteriöse Gestank aus Europa kommt, aber er sagt auch, dass er schlicht nicht in der Lage war, die chemischen Ursachen für den Gestank zu identifizieren. Der Experte sagt also durchaus nicht, dass die mysteriösen Odeurs vermutlich vom Kontinent her kämen, in other Terms: Der Titel ist schlicht und einfach gelogen.

Er passt natürlich in die aktuelle Gemütslage der Engländer, das versteht sich von selber. Aber auch nur entfernt wahr ist er nicht. Angesichts der Lage der englischen Presse wäre das weiter nicht bemerkenswert, wenn Artikel und Titel eben nicht im «Independent» erschienen wäre, einer Zeitung, die man bis vor wenigen Jahren durchaus eine Zeitung nennen, also lesen und sogar als Referenz oder Quelle zu ganz unterschiedlichen Themen herbeiziehen konnte. Im Jahr 2004 wurde das Blatt laut Wikipedia mit dem British Press Award als National Newspaper of the Year ausgezeichnet. Der «Independent» war derart seriös, dass er immer weniger Leserinnen und Leser fand und im Jahr 2016 seine Existenz als physische Zeitung einstellen musste; seither erscheint er nur noch im digitalen Format. Vielleicht besteht auch ein Zusammenhang damit, dass er im Jahr 2010 von einem russischen Oligarchen gekauft wurde. Aber wie auch immer: Dass nun ein solcher kleiner, aber feiner Stinkeartikel ausgerechnet vom Independent auf den Kontinent herüber weht, das ist schon ein wenig traurig.

Selbstverständlich gibt es wichtigere Themen, auch im Medienbereich, gegenwärtig aber vor allem in der Politik, wo man sich nach den Bayern-Wahlen schon wieder die Frage nach dem Fortbestand der großen Koalition stellt, bloß diesmal anders rum als noch vor den Sommerferien, als der See­hofer-Watschenkasper ums Verrecken als Fremdenfresser und Merkel-Stürzer an Profil gewinnen wollte. Ich selber weiß auch heute noch nicht, ob ihm dies der bayrische Ministerpräsident einge­flüstert hat oder ob es Seehofers eigener Initiative entsprang. Jedenfalls hat der Söder jetzt noch versucht, kurzfristig einen Kurswechsel um 180 Grad zu signalisieren, nachdem ihm die Meinungs­umfragen zeigten, dass die Seehofereien zwar der Regierung und insonderheit Frau Merkel geschadet haben, aber noch viel mehr dem Seehofer selber und der ihm angehörigen CSU. Seehofer und mit einiger Wahrscheinlichkeit Söder als Taktgeber haben mit anderen Worten innerhalb von weniger als einem halben Jahr die CSU aus einer Stütze zu einer Krücke der Regierung gemacht. Ich bin gespannt, wie das nun in München weiter geht. Und selbstverständlich auch in Berlin, im Moment grad wohl weniger wegen der Schwäche der CSU als vielmehr wegen der mangelnden Perspektiven der SPD. Bayern zählt nicht zu deren Stammesgebiet, aber dass die SPD ihre Stimmenanteile geradeaus halbiert hat, ist schon ziemlich dramatisch. Die Ursachen sind nach wie vor die gleichen: Die Sozial­demo­kratie hat keine Funktion mehr, nachdem die ganze Gesellschaft eine sozialdemokratische geworden ist. Dies gilt übrigens auch für die Christdemokraten, die sich ja auch ganz und gar sozialdemokratisiert haben, zur Erinnerung: spätestens seit Helmut Kohl, das hat ja keineswegs mit Angela Merkel angefangen, sie hat die sozialdemokratische Politik bloß vervoll­kommnet. Keine Funktion, keine Perspektiven, kein Programm, bloß noch eine riesige Portion Nostalgie kann die SPD in die Waagschale werfen.

Nostalgisch, bloß auf eine eher eigentümliche Art und Weise, sind ja auch die Rechten und die Rechtsextremen, und ich komme nicht darum herum, wieder einmal an den Roman «2017» von Olga Slawnikowa zu erinnern, wo anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der russischen Revolution nicht nur die Revolution nachgestellt wird, sondern wo die Figuranten plötzlich auch real zu schießen beginnen. Die ganze Gesellschaft spielt die Revolution in vivo nach, selbstverständlich unter den Bedingungen einer Farce, aber man spielt es eben dennoch nach, weil die Gesellschaft es versäumt hat, in der Zwischenzeit ihre Vorstellungen zu aktualisieren und, nein, nicht ihre Programme, sondern die Programme muss man eben von Grund auf neu schreiben, und das ist die Arbeit, welche jetzt langsam angepackt werden muss. Wir brauchen ein von Grund auf neues politisches Programm.

Dieses Programm wird sich wohl oder übel auf den Grundlagen der Demokratie erheben müssen. Ich sage wohl oder übel, weil in letzter Zeit verschiedene Teile des der Demokratie doch wesensmäßig zugrunde liegenden Volkskörper als, was weiß ich: demokratieunfähig oder vielleicht antidemokratisch oder auch ganz schlicht als dumm erwiesen haben. Ich muss dies gleich relativieren: Dummheit findet sich auch im sozialdemokratischen Politklumpen, inklusive CSU und CDU, recht massiv, und sie findet sich auch bei mir selber, der ich doch dauernd um ihre Bekämpfung ringe. Dumm bin ich nämlich insofern, als ich Kommentare und Analysen formuliere in der Meinung, sie würden mindestens einen Erkenntnisgewinn, wo nicht einen Beitrag zur Veränderung oder Verbesserung der Verhältnisse leisten, und sei er noch so klein. Dies ist selbstverständlich im sozialdemokratischen Medienkonsens völliger Blödsinn, und ich müsste das eigentlich wissen.

Aber immerhin kritisiere ich den sozialdemokratischen Medienkonsens nicht auf eine Art und Weise, welche die gesamte Wahrheitsvermutung unterpflügt, wie dies die rechten und rechtsextremen Kolleginnen und Kollegen tun. Das ist dann doch in einer anderen Liga dumm, als was ich mir jeweils erlaube. Und damit zurück: Eine aktuelle politische Theorie wird um die demokratische Ausrichtung nicht herum kommen. Sie wird aber dabei berücksichtigen müssen, dass die moderne Gesellschaft unterdessen einen Grad an Heterogenität und an Ausdifferenzierung erreicht hat, welcher die Erstellung von gemeinsamen Programmteilen äußerst schwierig macht. Dies zum ersten; zum zweiten ist der erreichte Grad an Heterogenität und Ausdifferenzierung nur zu loben. Das geht oft vergessen bei all den schönen Visionen und Utopien: dass man es nicht mehr mit Individuen zu tun hat, welche sich unter Sammelbegriff zum Beispiel des Proletariats nun in eine veredelte Existenzform zu erheben anschicken, sondern es handelt sich um ausgesprochen weit individualisierte Individuen.

Dieser Voraussetzung ist gleich anzufügen, dass all diese prächtig individualisierten Individuen mit ihrer Social-Media-Seite dann gleich wieder über einen Kamm zu scheren sind, sowieso die bedenkenlosen Facebook-User, aber im Kern sind es auch die anderen, also jenseits des reinen Social-Media-Bereichs, dort, wo das individualisierte Individuum zum Datenhaufen wird. In diesem Bereich hat die Welt eine Qualität von Gleichheit erreicht, die ihresgleichen noch nicht hatte. Was das konkret zu bedeuten hat, kann ich im Moment nicht so richtig sagen, ich gehe einfach davon aus, dass allein aufgrund der kompletten Digitalisierung der Individuen so etwas wie eine radikale Systemkritik schlicht und einfach unmöglich wird – einmal unabhängig davon, ob es so etwas überhaupt noch brauchen täte oder nicht.

Trotzdem. Ein politisches Programm muss zuerst Klarheit schaffen über die verschiedenen und unterschiedlichen Interessenlagen innerhalb der Gesellschaft. Ich bin überzeugt davon, dass man an den klassischen Forderungen aus dem Bereich Freiheit, Gleichheit und Brüderlich- und Schwesterlichkeit festhalten muss. Ganz und gar selbstverständlich sind die Forderungen nach der definitiven Ausrottung der Armut, zunächst bei uns, wo das schon fast eine Realität ist, und dann in unserer näheren Umgebung und schließlich auf der ganzen Welt, oder meinetwegen auch umgekehrt, aber realistischerweise findet das ungefähr in dieser Reihenfolge statt. Selbstverständlich ist auch die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, das ist mehr oder weniger geschenkt. Was aber darüber hinaus geht, das muss zunächst einmal kartiert werden. Zuerst einmal im Bildungsbereich. Die Aussage, dass mehr Bildung in den Volkskörper gestopft werden muss, selbstverständlich vor allem in seine von Dummheit befallenen Teile, ist völlig unbestritten; aber wie das vonstatten gehen soll, mit welchen Zielen, mit welcher Motivation und nicht zuletzt mit welchem Personal und innerhalb welcher institutioneller Form, darüber ist doch noch einmal ein Plauderstündchen abzuhalten.

Jaja, nur schon hier, und sagt an: Montessori, Rudolf Steiner, Reformpädagogik? Welches Menschenbild legen wir dem Unterricht zugrunde? Und können wir besonders gefährdete Kinder aus dem Einflussbereich stumpfsinniger Eltern heraus lösen? Oder ist das gar nicht so ein dringendes Problem?

Ihr seht: Kaum will man sich etwas zurecht legen, wird es schon ozeanisch unübersichtlich. Und trotzdem ist es genau das, was man im Moment zu tun hat.



Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
16.10.2018

Kommentare

Zu diesem Artikel sind keine Kommentare vorhanden.

Kommentar hinzufügen


Optional, wird nicht veröffentlicht.