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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Peter Spuhler

Es gibt ein Argument dagegen und eines dafür, dass auch die neue Chefin der Deutschen Bahn, Frau Palla, Morddrohungen erhält. Das Argument dagegen beschlägt die Tatsache, dass sich das Pub­li­kum schon längst an die Katastrophe gewöhnt hat, die sich nach jahrelangen Verkehrsministereien der bayrischen Christlich-Sozialen Automobilunion zwangsläufig zum aktuellen Ausmaß aus­ge­wach­sen hat.

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In einer Phase, in welcher die Deutsche Bahn zum Gespött auch dritt- und viert­klas­si­ger Kaba­ret­tisten geworden ist, müssten Morddrohungen längstens unter der Würde jedes anstän­digen Mord­dro­hers sein. Das andere Argument kommt aus einer anderen Ecke; Evelyne Palla ist eine Frau, und das reicht für einen richtigen Mann alleweil aus, das Jagdgewehr zu reinigen oder den Spreng­stoff anzusetzen, mit dem Frau Palla und das ganze übrige Weibergesocks ins Weltall geschickt werden soll, wo es ja auch herkommt. Habt Ihr das gewusst, geschätzte Hörerinnen und Hörer, die Aliens sind unter uns, nämlich die Frauen, mindestens jene Frauen, die ihr Maul nicht halten kön­nen und sogar Chefinnenposten in Staat und Wirtschaft anstreben! – Ungefähr so stelle ich mir die blühenden geistigen Landschaften in den Köpfen der Männerwelt vor, welche die Mano­sphere bevöl­kern. Manosphere ist ein englischer Begriff, für den die Wikipedia sogar eine deutsche Über­set­zung anbietet, nämlich Mannosphäre. Das gefällt mir. Ich würde auch mit Mennosphäre gut leben können oder mit Mennopause oder so ähnlich.

Die Sphäre hat sich übrigens auch in Schweden ausgebreitet. Vor einem Monat ist Anna-Karin Hatt nach nur 5 Monaten in dieser Funktion von der Spitze der Zentrumspartei zurückgetreten, weil die schiere Masse an Drohungen und Belästigungen auch gegenüber ihrer Familie unerträglich gewor­den sei. Sie fühle nicht einmal mehr in ihrer Wohnung sicher, sagte sie. Drei Jahre zuvor hatte sich schon eine ihrer Vorgängerinnen, Annie Lööf, aus der Politik zurückgezogen wegen extremistischen Hasses, Drohungen von Neonazis, Online-Trolls und Stalkern im richtigen Leben. Damit ist die Mennopause wohl gültig umschrieben für die meisten Länder in der zivilisierten Welt. Eine der Auswirkungen ist wohl auch, dass es sich Frauen gut überlegen müssen, wenn sie in die politische Öffentlichkeit gehen wollen und irgendwelche Mandate annehmen. Kommt mir übrigens gerade jener Deepfake-Porno in den Sinn, mit denen die Wiederwahl einer nordirische Politikerin ins Parlament schon vor drei Jahren verhindert werden sollte; ich nehme an, dass auch Männer zum Ziel solcher Aktionen werden können, aber ich lese sowas fast ausschließlich über Frauen. Vielleicht gehen Männer weniger an die Öffentlichkeit, vielleicht vertragen sie es besser, weil es sich eher mit dem Männerbild verträgt als bei den Frauen mit dem Frauenbild, vielleicht erstrteckt sich die Manosphere auch in meinen Kopf hinein, wer weiß.

Wie auch immer: Zwei Drittel der Männer, welche die Manosphere bevölkern, werden Abstand nehmen von Mord­dro­hun­gen gegen Evelyn Palla oder sie nur beiläufig ausstoßen wie eine lästige Pflicht, weil Frau Palla ja nicht der Boss ist von Mercedes oder gar, Gott stehe uns bei, der Bayrischen CSU-Motorenwagenwerke oder von anderen Testosteronbomben wie Lamborghini, Ferrari, Porsche und so weiter. Ach, eine Bahn­chefin, werden sich diese Männer aus der Mannosphäre sagen, die ist bei einem solchen Nicht-Verbrenner-Unternehmen doch genau am richtigen Ort. Das restliche Drittel aber wird an seinen männlichen Reflexen festhalten beziehungsweise ihnen folgen und eben zum verfassungsmäßig garantierten Recht der freien Meinungsäußerung in der Form von Morddrohungen greifen.

Ich komme auf diese Frage, weil seit ein paar Tagen der Chef der Schweizerischen Bundesbahnen unter Polizeischutz steht, obwohl er gar keine Frau ist. Trotzdem werden Morddrohungen gegen ihn ausgestoßen, die Gewehre gereinigt und der Sprengstoff angerichtet. Dabei gibt sich Vincent Ducrot alle Mühe und hat eine große Instandhaltungsinitiative für das Bahnnetz am Laufen, welche angesichts der weiterhin steigenden Verkehrsströme auch dringend notwendig ist, der Mann versteht offensichtlich etwas von der Sache und hat auch langjährige Betriebserfahrung. Der Hass gegen Ducrot entsteht nicht direkt in der Mannosphäre, sondern steht im Zusammenhang mit der Tatsache, dass die Schweizerischen Bundesbahnen jüngst einen großen Auftrag für neue Züge nicht an das schweizerische Zugbauunternehmen Stadler Rail vergeben hat, sondern skandalöserweise an die deutsche Siemens. Mit anderen Worten: In der Schweiz darfst du alles machen, du darfst sogar eine Frau sein, aber einen inländischen Auftrag an einen ausländischen Produzenten vergeben, das ist eine Todsünde.

Es versteht sich von selber, dass in erster Linie der Besitzer der Stadler Rail vor Wut schäumte und von seinem verfassungsmäßig garantierten Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machte. Nein, natürlich nicht, indem er öffentlich eine Todesdrohung gegen Vincent Ducrot ausstieß, son­dern nur mit lautem Gefluche zum einen, mit der Einreichung einer Rechts- und Aufsichts­be­schwer­de gegen den Kaufentscheid der SBB zum anderen. Nun ist Peter Spuhler nicht irgendwer, sondern vielmehr ein Schwergewicht in der Schweizerischen Volkspartei, für die er auch lange Jahre im Parla­ment saß. Er hat Stadler Rail mehr oder weniger eigenhändig zu einem wichtigen Schienen­fahr­zeug­bauer aufgebaut und besitzt noch weitere Beteiligungen an Schweizer Unternehmen; zeitweilig saß er auch im Verwaltungsrat der Großbank UBS. Sein Vermögen beträgt gut 4 Mil­liar­den Schweizer Franken. Daneben stößt Peter Spuhler immer wieder politische Drohungen aus, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Erbschaftssteuer-Initiative der Jungsozialistinnen, die am letzten Wochenende mit vier Fünfteln der Stimmen abgelehnt wurde – weniger deutlich übrigens als die Initiative, die einen Service Citoyen einführen wollte, also eine Dienstpflicht für alle Bewoh­ne­rin­nen des Landes. Zu dieser fanden sich nicht einmal 20% Ja-Stimmen, was ich nach wie vor für einen Stockfehler der Demokratie halte. Wer den Staat nicht einfach als ein Dienst­leis­tungscenter ansieht, sondern im Prinzip nach wie vor als den Zusammenschluss aller Bewohnenden, welche darin und damit ihre Anliegen regeln vermittels von Institutionen, über welche gemeinsam be­schlos­sen wird, die oder der muss per Definition für einen Service Citoyen sein; das ist die authentische Gestalt des Grundsatzes, dass man eben nicht nur Rechte oder Ansprüche hat, sondern auch Pflichten, nämlich gegenüber der Gemeinschaft, nicht gegenüber einem bürokratischen Koloss. Aber sei’s drum.

Die Morddrohungen gegen den Schweizer Bahnchef kommen selbstverständlich nicht aus den Kreisen der Industriebeteiligungen von Peter Spuhler und auch sonst nicht aus der Wirtschaft. Zu dieser Wirtschaft gehört beiläufig auch die Siemens, welche in der Schweiz gut 6000 Personen beschäftigt. Vielmehr stammen sie aus der rechten und rechtsextremen Ecke der Schweizerischen Volkspartei, welche in Peter Spuhler sowieso einen Heiligen sieht. Dass der Rechtsnationalist mit seinem Unternehmen regelmäßig Aufträge vom sozialdemokratisch orientierten und unterwanderten Zentralstaat erhält, nehmen die Rechten und Rechtsextremen sozusagen als Abgeltung für ihr Still­hal­ten, und ihr Stillhalten ist gleichzeitig ein Zeichen unendlicher Toleranz gegenüber allen moder­nen Schweinereien wie eben ein sozialdemokratisches Staatswesen, das seit über 50 Jahren sogar das Frauenstimm- und -Wahlrecht kennt und insgesamt niemals das Militär auffahren lässt gegen­über von Schwulen, Lesbierinnen, Bisexuellen, queeren und Transgender-Personen und all den anderen Abweichungen von allen Normen. Da muss einem doch die Patronenkugel platzen! – Ja, ja, ja, so muss es sein, und ich wollte euch mit dieser Mitteilung nur etwas beruhigen: Man braucht nicht unbedingt die Allianz für Deutschland, um das Recht auf freie Meinungsäußerung zu aktivieren.

Für das Geschäft des Kommentars bin ich um solche Nachrichten auch froh, natürlich vor allem deshalb, weil ich nicht im Traum davon ausgehe, dass die Morddrohungen in die Tat umgesetzt werden, noch nicht einmal von einem Mitglied der «Jungen Tat», einer rechtsextremen Schweizer Gruppierung mit punktuellen Verbindungen zur Allianz für Deutschland. Es handelt sich eher um Berichte aus einer dumpfen Zone des menschlichen Geistes, die sich seit mehreren Jahren in den sozialen Medien halten, die aber mit sonstigen Regungen von Intelligenz und so weiter nichts zu tun haben. Das beobachten wir auch anderswo, zum Beispiel regelmäßig beim Präsidenten der Ver­einig­ten Staaten von Amerika. Aktuell bewundern wir seinen Purzelbaum bei der Bekämpfung des Drogenhandels im mittelamerikanischen Raum. Er will den Kokainschmuggler Juan Orlando Hernandez begnadigen, während er in der Karibik kleine Drogentransportboote von der Marine versenken lässt; er beschuldigt Venezuela, für den Drogenschmuggel in die USA verantwortlich zu sein, während alle wissen, dass mindestens Fentanyl aus Mexiko importiert wird und nicht aus Venezuela. Ich kann auch nicht dauernd über Israel sprechen; kürzlich habe ich in der inter­natio­na­len Presse gelesen, dass Israel sich selber verstehe und verhalte wie ein Hammer, der auf alles niederfährt, was entfernt wie ein Nagel aussieht. Dort stand auch, dass Israel sich imperial verhalte. Dem kann ich nicht zustimmen. Dafür fehlt dem kleinen Land neben der militärischen die wirt­schaft­liche Potenz im Nahen Osten. Angesichts der Unterstützung durch die USA ist das nicht weiter schlimm, aber Israel allein ist eben kein Empire und wird nie eines werden. Dagegen für die Besetzung beziehungsweise Einverleibung sämtlicher Territorien vom Mittelmeer bis zum Jordan, dafür wird es wohl reichen. From the River to the Sea, Israel will be free. Da es in der Aus­ein­an­der­set­zung zwischen den Zionistinnen und den Palästinenserinnen und ihren Sponsorinnen im Moment keine Aussichten auf einen nicht militärischen Ausweg gibt, muss man sich damit abfinden und kann nicht einmal Israel die alleinige Schuld am Schlamassel geben, denn die Gegenseite propagiert tatsächlich seit Jahrzehnten die Ausrottung der Jüdinnen in der Region. Damit ist die Schlachtplatte angerichtet.

Wenn wir gerade von Schlachtplatte sprechen: Die Aussichten auf einen Frieden in der Ukraine sind trotz den Anstrengungen des Friedensnobelpreiskandidaten im Golf der geistigen Verwirrung nicht wirklich besser geworden, mindestens sieht man noch nichts davon, abgesehen von einer wieder etwas höheren Reisetätigkeit verschiedener Ministerinnen und Diplomatinnen. Daneben bestätigt sich mit dem Rücktritt von Wolodimir Zelenskis rechter Hand wegen Korruptionsvorwürfen wieder einmal mein altes Vorurteil gegenüber diesem Land, das ich mindestens insofern ergänzen muss, als man auch in einem korrupten Land offenbar eine eins-a-Kriegsmaschine und eine sehr gute Rüstungsindustrie betreiben kann. Das ist mir übrigens zum ersten Mal aufgefallen, als ich vor gut zehn Jahren gelesen habe, dass die nordkoreanischen Raketen, welche zum Zwecke des Transportes von Atomsprengköpfen gebaut wurden, mit ukrainischen Triebwerken ausgestattet sind. Ich kann es nicht ändern: Es ist alles etwas verwirrend, und zwar nicht erst seit gestern.




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Albert Jörimann
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