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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Migrationen

Wieviele Flugzeugladungen Flüchtlinge treffen täglich in Minsk ein? Ich weiß es nicht. Im Ver­gleich zu den 5 bis 6 Millionen, die in der Türkei ausharren oder zur Million Syrer:innen im Libanon sind es nicht besonders viele, aber selbstverständlich bemühen sich sowohl die Pol:innen als auch die ganze EU, diesen Einreisekanal möglichst früh zu verstopfen, man hat genug zu tun mit all den Nordafrikaner:innen auf der anderen Seite des Mittelmeer-Tümpels und mit den übrigen Afrikaner:innen, die immer noch von Libyen aus europäisches Festland zu gewinnen suchen, ganz abgesehen von den Anfragen bzw. der Nachfrage aus Afghanistan, Pakistan und eben sowieso aus Syrien.

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Wenn es denn tatsächlich eines ist, wie man uns immer wieder vorrechnet: Ein richtig tolles Druckmittel hat der weißrussische Pampel Lukaschenko nicht wirklich in der Hand, nachdem ihm sogar die Türk:innen und die Syrer:innen den Nachschub abdrehen, worauf er mit der Unter­bre­chung der Erdgaszufuhr nach Europa droht; nur dumm, dass dieses Erdgas seit längerer Zeit durch die Ostsee fließt. Hat der davon gar nichts mitgekriegt? Hat ihm Wladimir Wla­dimi­ro­witsch denn nichts gesagt? Seltsam, aber gleichzeitig egal, denn das große Bild bleibt sich gleich: Der Druck der Bevöl­kerun­gen aus den ärmeren Weltgegenden auf die reichen Länder wird nicht abnehmen, egal, ob im Kleid der Flüchtlingsbewegung oder sonstwie, legal oder illegal. Das liegt nun mal in der Natur der Sache, das physi­kalische Gesetz dazu nennt sich Entropie, und von dem Moment an, da die ganze Welt um den Reich­tum in den reichen Ländern weiß, also seit der Verbreitung von Fern­sehen, aber ganz ent­schei­dend der Mobiltelefonie, gibt es für niemanden mehr einen vernünftigen Grund, sein Glück nicht auch zu versuchen. Die Kosten sind unterdessen ebenfalls bekannt: Bis an die EU-Außengrenze betragen sie je nach Anbieter und Distanz zwei- bis zehntausend Euro pro Person. Diese Summe ist unterdessen in den Ursprungsländern flott aufzutreiben, unter anderem im Rahmen von Kreditabkommen innerhalb von Dorfgemeinschaften und Familien. Das läuft.

Aus Sicht der reichen Länder ist dies mehrfach problematisch. Das größte Unglück in diesem Zu­sammenhang liegt in der eigenen Bevölkerung. So, wie der allgemeine Bildungs- und Wissens­stand nach wie vor nicht dem Stand der Entwicklung von Produktivkräften und Kulturstand angemessen ist, kennen auch die meisten Mitglieder der europäischen Bevölkerung das erwähnte Gesetz der Entropie nicht, und da haben wir den Salat: Wie will man zum Beispiel in Deutschland eine ver­nünf­tige Migrationspolitik entwickeln, wenn man nicht die Allianz für Deutschland direkt an die Macht bringen will? Oder auch: Wie will man eine vernünftige Außenwirtschaftspolitik in Ver­bin­dung mit massiven Investitionen in Afrika realisieren, wenn man gleichzeitig Fragen des Mindest­lohnes offen hat?

Rein in Zahlen betrachtet, also ohne jede grundlegende menschen- und grundrechtliche Argumenta­tion, erzielt die nationalistische Abschreckungspolitik im Stil des Italiener Protofaschisten und Blutsbruder von Wladimir Wladimirowitsch Matteo Salvini mindestens kurzfristig Erfolge. Unter seiner Herrschaft als Innenminister sank die Zahl der Ankömmlinge in Italien auf 11'000 im Jahr 2019. Heute sind es wieder 60'000. Die nationalistische Verhärtung der eigenen Position, also Abwehr und Abschreckung der Migrationswilligen, ist nicht nur eine logische Folge des steigenden Drucks, sondern sie ist auch die Substanz der offiziellen, also nicht direkt nationalistisch begrün­deten Zuwanderungspolitik der Europäischen Union, ebenso wie der Vereinigten Staaten, notabene. Die offizielle Position lässt im Gegensatz zu Brüllaffen wie Salvini immerhin pro forma ein paar Ruinen der ehemaligen Einwande­rungs­praxis stehen, wie man sie vor vierzig Jahren kannte, zu einer Zeit eben, da es noch keine Mobiltelefonie gab. Die berühmteste dieser Ruinen ist das Flücht­lings- und Asylrecht, in dessen Rahmen nach wie vor tausende von Verfahren geführt beziehungsweise Gesuche abgelehnt werden. Insgesamt wissen die Regierungen aber genau, dass sie ihren Bevölkerungen die Einwanderung nur in homöopathischen Dosen zumuten dürfen, da sie das Thema wie die Nationalist:innen immer wieder gerne auch selber zum Regieren missbraucht haben.

Was ist in dieser Frage zu empfehlen? Am meisten zu tun gibt es nach wie vor in den Herkunfts­ländern. Alle wissen, dass theoretisch genug für alle da wäre. Man bräuchte sich gar nicht die Köpfe einzuschlagen und gegenseitig die Dörfer zu verwüsten im Namen von Rasse, Religion und Haar­farbe, sondern man könnte ganz einfach ein normales Leben in Mehrraumwohnungen mit Warm­was­ser und vier Wochen Urlaub im Jahr für alle einrichten. Es wäre kein Problem. Und nun bringen wir das mal den Menschen bei in Äthiopien und Eritrea, in Marokko und Mauretanien, in der Sahel­zone, in der Demokratischen Volksrepublik Kongo, in der Demokratischen Volksrepublik Zentral­afrika, in der Demokratischen Volksrepublik Kamerun und in der Demokratischen Volksrepublik Südafrika und anschließend noch in den demokratischen Volksrepubliken Zimbabwe, Angola, Moçambique, Malawi, Burundi, Rwanda, Tansania, Sambia und vielleicht eher zum Schluss noch den verschiedenen sudanesischen Volksrepubliken, die es unterdessen gibt, und Somalia, Ägypten, Libyen, Tunesien und Algerien. Und so weiter. Nein, es hat keinen Wert, die Aufzählung bringt es sofort an den Tag, wenn man auch nur einen Hauch an Informationen aus diesen Ländern zur Verfügung hat: So geht es nicht, da müsste eine Weltregierung das Szepter in die Hand nehmen und den ganzen Kontinent von Grund auf so reorganisieren, dass all die neoliberalen Heuschrecken daneben erblassen täten. Das funktioniert noch nicht einmal als Hirngespinst.

Ebensowenig funktioniert die Umsetzung, ja nur schon die Anwendung unserer sogenannten Werte auf andere Weltgegenden und Länder. Nehmt nur schon Liechtenstein als Beispiel: Dieser Kleinst­staat wird von einer Erbmonarchie betrieben, welche tatsächlich die letzte Autorität hat im Land, also direkt in den Gesetzgebungsprozess eingreifen kann, im Gegensatz zum Beispiel zu England, wo sich die Rolle der Königin darauf beschränkt, die Regierungsprogramme des Premierminister-Clowns vorzulesen; sie wird dabei immerhin getröstet durch die Tatsache, dass die Hälfte der Oberfläche Englands dem Königshaus gehört. Oder die Pampelmänner Erdopimpel, Lukaschenko und Putin. Die Halb- und Ganzdiktatoren im Maghreb, in Ägypten, Syrien und auf der arabischen Halbinsel. Die einzige vermeintliche Demo­kratie neben Israel in der Region, der Libanon, ist vollständig zerfallen, zerfressen nicht von einem, sondern von mehreren, wenn nicht von allen Viren, die ideologisch bekannt sind. Nein, da müssen wir einen Schritt zurücktreten und zuge­ste­hen, dass der Fortschritt auf allen Ebenen nur dort zum wirklichen Fortschritt wird, wo es die gesell­schaftlichen Grundlagen auch zulassen, und in dieser Beziehung sind den Europäer:innen nun mal einfach die Hände gebunden, ganz abgesehen davon, dass es auch den US-Amerikaner:innen nicht gelungen ist, in Afghanistan die Frauenrechte einzuführen, wie es bekanntlich der Zweck der Invasion vor 20 Jahren war, wenn ich mich recht erinnere beziehungsweise wie ich es heute aus den Kommentarspalten heraus lese. Mit anderen Worten und in Bezug auf eben Afghanistan: Nein, der Talibanerer wird in absehbarer Zeit nicht mit sich über die Gleichberechtigung der Frau diskutieren lassen, zum einen, und all die tapferen Afghanerer:innen, welche sich als politische Flüchtlinge bei uns einschreiben, sind wohl auch nicht primär wegen der Frauenrechte ausgewandert.

Kurz: Es geht einfach nicht, dass wir unsere Kriterien vorbehaltlos auf andere Länder und Welt­ge­gen­den anwenden; die haben noch einen weiten Weg zu gehen, genau so wie wir auch, und in der Zwischenzeit wollen wir uns Mühe geben, an unseren eigenen Kriterien nicht so weit zu ver­zwei­feln, dass wir plötzlich behaupten, die eigentliche Diktatur finde bei uns statt, vor allem von Seiten der sozialdemokratischen Medien und ihrer Anverwandtschaft oder Schutzherrschaft in Univer­si­tä­ten und überall sonst. So ist es ja dann auch wieder nicht, auch wenn sich unterdessen schon bewährte Kämpfer:innen gegen die Unvernunft zu Attacken gegen jene Linke hinreißen lassen, die sich angeblich nur noch der Cancel Culture und der Wokeness und anderen schönen Dingen wid­met; so ist es nicht, meine Damen und Herren, wer sich links nennt, steht nach wie vor in der Tradition der kritischen Vernunft und der Aufklärung und damit auch meilenweit über jenen läppischen Versuchen, aus jedem falsch geschriebenen Adjektiv einen Verstoß gegen die Rechte von Frauen, Farbigen und anderen Minder- und Mehrheiten zu konstruieren. Das ist nicht links, das ist einfach kindisch, und wer diese beiden Ebenen nicht auseinander halten kann, die oder der geht ihres oder seines Ordre de la mérite der kritischen Vernunft verlustig.

Nicht in diesem Zusammenhang, aber immerhin möchte ich vermelden, dass laut der Nachrichten­agen­tur TDH die Baumwollernte in Turkmenistan Fahrt aufnimmt. «Jeder Tag bringt die hart arbeitenden Erntekräfte auf den Baumwollplantagen der Erfüllung der von Präsident Gurbanguly Berdimuhamedow gesetzten hohen Ziele näher», heißt es in der entsprechenden Meldung vom 8. November. Bisher hätten die Arbeiter:innen von Geokdepe bereits über 12'500 Tonnen des weißen Goldes eingebracht und jene von Ak Bugday über 43'300 Tonnen. Jene von Chardjew und von Dargana weisen über 61'600 beziehungsweise 6500 Tonnen aus. Solche Meldungen erfreuen uns natürlich vor allem deshalb, weil sie im Jahr 2021 praktisch wörtlich jenen aus dem DDR-Propagandaministerium aus dem Jahr 1971 entsprechen, selbstverständlich nicht in Bezug auf Baumwolle, sondern in Bezug auf die Kohleproduktion, zum Beispiel, also auf das schwarze Gold.

Damit soll ja jetzt dann irgendwann mal Schluss sein, wie es offenbar im lauwarmen Schluss­doku­ment der Weltklimakonferenz von Glasgow stehen soll – ich habe es nicht übers Herz gebracht, dieses Papier zu lesen. Ich habe auch das Schlussdokument der Pariser Weltklimakonferenz nicht gelesen und bin somit nicht in der Lage zu beurteilen, ob die damaligen Beschlüsse und Abma­chun­gen eingehalten wurden oder werden oder ob man im Fahrplan liegt bei der Einhaltung. Ich gehe davon aus, dass Nein. Das einzige, was ich weiß, ist, dass die durchschnittliche Breite eines Personenkraftwagens seit der Klimakonferenz von Paris um 10 Zentimeter zugenommen hat, vor allem vermutlich dank den Einparkhilfen. Die Länge hat vermutlich ebenfalls zugenommen, sagen wir mal um 20 Zentimeter, und gewachsen ist dieses Hätschelwesen ebenfalls, von sagen wir mal ein Meter dreißig auf einen Meter achtzig. Das ist der konkrete, individuelle Beitrag zum Energiesparen. Dass sich der Publikumsgeschmack entsprechend entwickelt hat, dafür können die großen Automobilhersteller:innen natürlich nichts, im Gegenteil: ihre Marketing-Abteilungen haben vergeblich versucht, das Image von Sports Utilities Vehicles schlecht zu machen. Immerhin versuchen die Automobilhersteller nachweislich seit Jahrzehnten, umweltfreundliche Antriebstechniken in ihre Fahrzeuge einzubauen, namentlich die Elektromotoren; sie verhalten sich dabei ungefähr gleich wie die Tabakkonzerne, die jetzt trotz dem wissenschaftlichen Beweis, dass Rauchen gesund ist und in den Intensivstationen der Spitäler eingesetzt werden sollte, von der normalen Zigarette abrücken und heute ebenfalls das elektrische Rauchen empfehlen. Aber es ist beim Rauchen wie in der Automobilbranche: Am Schluss ist halt die Kundin Königin und besitzt bald gleich viel Straßenland in Deutschland wie die englische Königin Grundstücke in England.


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Albert Jörimann
16.11.2021

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