Artikel

"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Rauschebärte

Nehmen wir mal zugunsten des Individuums an, dass es sich gar keine Gedanken macht über sein Weltbild. Das erklärt nämlich schon vieles, entschuldigt aber nichts, in erster Linie nicht den Umstand, dass es sich keine Gedanken macht darüber.



artikel/Aus neutraler Sicht/J_KW_19_200px.png


Download

Dass das Individuum die Welt so sieht, wie es sie sieht, ist nämlich nicht ein Naturvorgang wie zum Beispiel das Erfassen der näheren Lebensumstände, wie das Individuum dies schon in der frühesten Jugend erlernt und übt anhand von Beispielen wie den Eltern, der Wohnung, dem Essen, später dann der Schule und weiter im Erwerbsleben. Dem Erfassen wird praktisch von Anfang an auch das Filtern und Polarisieren aufgesetzt, zum Beispiel mit begründeten Verboten, wobei das Individuum zu Beginn, sozusagen in seinem Lurch-Stadium das Verbot verinnerlicht und nicht die Begründung. Wahrnehmungs­filter, Polarisierung, Wertung bis hin zur Wahrnehmungseinschränkung prägen das Weltbild durchgängig. Gerade in diesem Punkt unterscheidet sich ein allgemeines Individuum von einem modernen und aufgeklärten Individuum, nämlich darin, dass sich das moderne Individuum solcher Ein­schrän­kun­gen bewusst ist. Das heißt zwar noch nicht, dass es sie auch überwindet oder gar in jedem Fall und restlos überwindet; aber es weiß immerhin um die Limiten, um die Bedingtheit seines eigenen Weltbildes. Und damit habe ich das eingangs stipulierte Individuum, das sich gar keine Gedanken macht über sein eigenes Weltbild, bereits wieder vom Sockel gestoßen.

Wieso aber habe ich es überhaupt darauf gehoben? Letzte Woche sah ich eine Foto vom Sturm bewaffneter Demonstranten des Parlamentsgebäudes in Michigan. Eine Glatze mit Vollbart hatte den Kopf weit offen und brüllte die Polizeibeamten an, welche den Demonstranten den Zugang, was weiß ich, zum Parlamentssaal oder zum Sitz der Parlamentspräsidentin verwehrten. Es ging um die Lockerung der Einschränkungen, welche vorgenommen worden waren, um die Verbreitung des Corona-Virus einzudämmen. Die Demonstranten forderten nicht die Lockerung, sondern die sofortige und unumschränkte Aufhebung dieser Einschränkungen, wenn ich das recht verstanden habe, und sie hätten, wenn ich die Bildersprache richtig verstehe, am liebsten das ganze Parlament und die verantwortlichen Regierungsmitglieder am Hals aufgeknüpft. Sie waren, um es auf den Punkt zu bringen, empört.

Die Empörung trägt in Frankreich gelbe Westen und in den Vereinigten Staaten und in Ost­deutsch­land Glatze mit Vollbart, soviel ist im Moment offensichtlich; aber wenn ich solche Fotos sehe, dann trägt die Empörung auch einen weißblonden Schnauz, sie sitzt nämlich auch in mir höchst­persönlich. Sie beherrscht mich nicht, sie ist also nicht das überschießende Teil meiner Persön­lich­keit, aber eine nicht unbedeutende Abteilung meiner selber würde am liebsten den nächsten inter­galak­tischen Flug nehmen und dem krakeelenden Vollbart in Michigan eins über die Rübe ziehen. Eine etwas kleinere Abteilung möchte auch dem Adolf Höcke ein paar Nasenstüber verab­rei­chen, wenn er wieder mal davon faselt, dass die Deutschen bei der Beseitigung der Schutthalden der Moderne keine halben Sachen machen werden – mehr nicht, ganz im Ernst, denn solche Ver­su­che, dem verrotteten Nazi-Scheiß vermittels eines Hitler-Sprachduktus neues Leben einzuhauchen, gehören nun mal nicht in die reale Welt, sondern in jene der Zombies und des Voodoo. Trotzdem reicht es beim Höcke regelmäßig für eine kleine Empörung und für eine größere jeweils, wenn die Rauschebärte sich an Volks- und Lynchjustiz machen – hier ärgert mich in erster Linie, dass diese Hosenbrunzer ihre Empörung als allgemeine wahrnehmen, dass sie wähnen, im Namen eines relevanten Teil des Volksganzen zu handeln. Nun – solange ich davon ausgehen kann, dass die Ordnungskräfte, zunächst mal unabhängig von der Ordnung, welcher sie ihre Kraft verleihen, die rauschebärtigen Glatzen im Rahmen der normalen Gewaltenteilung und der geltenden Gesetze behandeln, solange kann oder sollte ich meine Empörung auf jeden Fall im Laufgitter einsperren.

Das Zeitalter der Empörung ist schon längstens angebrochen, vielleicht hat es überhaupt gar nie aufgehört, seit die Menschen massenweise zu Individuen geworden sind, also seit etwas mehr als 100 Jahren. Zum Teil hat die Empörung konkrete Inhalte, die Benzinpreiserhöhung in Frankreich zum Beispiel oder früher Hunger und Entbehrung; und selbstverständlich beschlägt Empörung auch gesellschaftliche oder politische Missstände, bloß wird es hier etwas schwierig, weil die gesell­schaftlichen und politischen Missstände nicht so einfach zu beheben sind wie eine Benzin­preis­erhöhung, die man rückgängig machen kann, oder Hunger und Entbehrung, die man beheben kann oder nicht. Bei den Missständen braucht es zuerst Erkenntnis- oder Einsichtsprozesse, welche es überhaupt erlauben, die Empörung zu formulieren; und zweitens braucht es Verbesserungs­per­spek­tiven. Es reicht nicht, die Eliten, die Politikerinnen und das ganze Gesocks, welches die Wäh­le­rin­nen und Wähler tatsächlich andauernd anlügt und über ihre tatsächlichen Interessenbindungen hinweg täuscht, diese Eliten, Politikerinnen und Politiker und die ihnen zudienenden Medien als «das System» zu benennen und seine Beseitigung zu fordern, so korrekt das im Einzelnen auch sein mag; es braucht für die Zeit nach der Beseitigung, über welche Beseitigung übrigens auch noch das eine oder andere Wörtchen zu verlieren wäre, Perspektiven, Handlungsanleitungen, Vorstellungen über die konkrete und korrekte Organisation der Gesellschaft. Solche Perspektiven fehlten zum Beispiel nach der Finanzkrise praktisch vollumfänglich, als sich die geschädigten, betroffenen oder andere Menschen in vielen Ländern organisierten und eben dem Aufruf des alten Stéphane Hessel zur Empörung folgten. Occupy Wall Street und Konsorten waren aber Bewegungen, welche sofort wieder zerfielen und sich allenfalls noch in der Kunst der herrschaftsfreien Selbstorganisation im Rahmen von Soziokratie oder Holokratie übten; ansonsten hatten sie keinerlei Erfolg oder auch nur Auswirkungen, weil sie auch keinerlei Vorschläge zu einer konkreten Veränderung der kritisierten Verhältnisse liefern konnten. Dies taten dann die Staaten beziehungsweise die Finanzmarkt-Aufsichtsbehörden in mehr oder weniger effizienter Art und Weise; die Kritik von Occupy Wall Street erwies sich aber sehr schnell als ziellos, eben: als reine Empörung.

Die Glatzen mit den Rauschebärten haben natürlich neben ihrer Empörung auch ein Ziel, nicht immer das selbe, aber sie haben schon eines, eben in Michigan zum Beispiel die Abschaffung sämtlicher gesundheitlicher Vorsichtsmaßnahmen. In Ostdeutschland sehen die Glatzen mit den Rauschebärten die Verwirklichung ihrer Ziele in der Ausschaffung von allem, was nach Ausland riecht, wobei sie oft noch ein Hintertürchen offen lassen für Glaubensgenossen im weiter östlich gelegenen Teil Europas. Ich denke, dass die Rauscheglatzen im Ziel ihrer Empörung oft deutlicher sind als in ihrem Gegenstand, mindestens über die Ausländerfrage hinaus, wo das anfangs erwähnte Problem mit der Wahrnehmung sehr klar zum Vorschein kommt. Im Gegensatz zum Beispiel zur Finanzkrise, welche die Grundlagen des Finanz- und damit des gesamten Systems ins Wanken brachte, handelt es sich bei den System­män­geln, welche die Rauschebärte bekritteln, um hahne­büchene Vorwürfe, deren analytisches Niveau bei 4.5 Promille Alkohol im Blut liegt. Insofern ist die Empörung bei den Rechtsextremen fast rein, ähnlich, wie sie auf der erwähnten Foto zum Ausdruck kommt.

Ihr verzeiht, geschätzte Hörerinnen und Hörer, dass ich mich überhaupt mit solchen Vögeln befasse, welche der Vernunft kategorisch Adiö gesagt haben und nicht mal eine Ahnung davon haben, dass sie überhaupt über ein Weltbild verfügen, wenn sie dieses aus ihrem Kopf heraus brüllen. Man muss sich eben trotzdem hin und wieder mit ihnen befassen, weil es sich per Definition auch um Menschenwesen handelt, auch wenn sie sich alle Mühe geben, alles, was am Menschen mensch­lich ist, zu bestreiten, zuvörderst logischerweise die Vernunft. Was macht man mit solchen unglück­li­chen Existenzen, wie kommt es, dass sie überhaupt dazu werden, und wie ist es möglich, dass ihr soziales Umfeld, ja die gesamte Gesellschaft sie nicht aus dem Stand heraus derart verächtlich macht, dass sie in sich zusammensinken wie ein gestochener Luftballon? Mit solchen Fragen muss sich die Zivilisation eben trotz allem hin und wieder auseinandersetzen und ich mit ihr, eben, weil ich in mir selber immer wieder die Tendenz verspüre, die Rauschebärte am Bart zu packen, den Kopf zwischen die Knie einzuklemmen und hemmungslos draufzuhauen, während ich rufe: «Nein, Deutschland wird nicht umgevolkt! Nein, hier gibt es keinen Bevölke­rungsaustausch! Es gibt nur dumme, saudumme und strunzdumme Rechtsextreme, die am liebsten den dritten Weltkrieg lostreten möchten von deutschem Boden aus, was aber nicht geht, weil ihr dazu zu dumm seid!» – Und diese Tendenz zu unterdrücken ist eine Heidenarbeit, glaubt es mir, und trotzdem muss man sie leisten, um nicht auf das gleiche Niveau zu sinken wie die Sturmscharen von Adolf Höcke.

Während man sich nämlich noch über diese Biernazis ärgert, laufen andere Entwicklungen, die unseren Alltag tausendmal stärker prägen werden als die Neonazi-Netzwerke, welche übrigens der Verfassungsschutz sehr gerne mal ausräuchern könnte, da wäre in jeder Beziehung nichts dagegen einzuwenden. Wenn wir uns nicht immer wieder mit diesen Banden auseinandersetzen müssten, die auf Wissen, Bildung, Logik und Vernunft speien und kotzen, dann könnten wir uns mal die Frage stellen, was es bedeutet, wenn im nationalen oder globalen Datenspeicher sämtliche Informationen zu unserer Person schon verlässlicher gespeichert sind als unser ganzes bewusstes Weltbild in uns selber drin. Zunächst geht es hier ja nur um die Vorhersehbarkeit unserer Handlungen und insbe­son­dere unseres Konsumverhaltens. Das ist weder für uns noch für die Herrscherinnen der globalen Datenspeicher weiter bedrohlich. Auch unsere systemkritischen Bemerkungen und sogar Aktivitäten werden in den globalen Datenspeichern nicht nur festgehalten, sondern im besten Fall mit einer gelben Schutzweste markiert und unter dem Stichwort «Empörung» abgelegt. Empörung heißt in den meisten Fällen eben harmlos, nicht systemrelevant. Falls es nun aber um das System gehen täte, falls wir uns die Frage stellen möchten, wie man denn an dieses System heran kommt, über das wir ja niemals befragt wurden, über das wir auch nie je befragt werden und das selbst den Systemträgern längstens entwachsen sein dürfte, falls es also um das System ginge – was dann? Dann müssten wir zuerst selber ein paar Fragen beantworten, wie dieses System denn aussehe, und zwar, wie ich immer wieder betone, unter den Vorzeichen einer vollautomatisierten und globalisierten Produktion, die zu negieren zwar das Hobby von ein paar glatzköpfigen besoffenen Rauschebärten sein mag, die aber eigentlich eben die Grundlage für eine Gesellschaft darstellen würde, die frei von den alten Ängsten und Zwängen der Menschheit ist. Es macht aber den Eindruck, als hätten wir gleichzeitig mit dieser Freiheit jenes System von Totalüberwachung eingehandelt, das man in China in einer sehr unvollkommenen, weil schreiend sichtbaren, plumpen und von Grund auf ungerechten Art und Weise beobachten kann – Flensburger Knöllchen für asoziales Verhalten, das, mein lieber Herr Chineserer, ist eine Repressionsform, welche in der modernen Zeit von modernen Menschen als nicht besonders charmant empfunden wird.



Hier findest du alle Kolumnen von Albert Jörimann von 2007 bis heute.

Albert Jörimann
05.05.2020

Kommentare

Zu diesem Artikel sind keine Kommentare vorhanden.