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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Guatemala

«Ihrer Kindheit beraubt an der Panamericana», so ungefähr könnte man den Titel eines Artikels übersetzen, der Ende März in «Le Monde» erschienen ist.



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Es geht um junge Mi­grant­In­nen, nein, eben nicht in Dresden, sondern in Guatemala, und über ihr schwieriges Leben bezie­hungsweise Überleben in der Hauptstadt, wo sie unter der Herrschaft von Straßengangs und in einer anderen Sorte von Armut leben als die, welche in Deutschland unter dem Titel «Hartz IV» diskutiert wird. Ich möchte diesen Artikel, so wie die zweihundert anderen von seiner Art, die täglich publiziert werden, «schön» nennen als aufrichtiges Bekenntnis einer schönen Seele, hier der Journalistin Maryline Baumard, es sind übrigens sehr häufig weibliche Seelen, welche sich so bekennen und noch auf dieser Stufe eine erstaunliche und für jene, die es erschrecken mag, erschreckende Geschlechter-Disparität offenbaren. «Schön» also, weil man dahinter das echte Verständnis der Menschenrechte als für alle gültig erkennen kann, gefolgt von der anklagenden Frage, weshalb das denn so sei, dass diese MigrantInnen in Armut und unter dem Gewaltregime der Straßengangs leben müssten, wo sie doch eben eigentlich ein Menschenrecht auf Umstände wie zum Beispiel in Dresden hätten, und zwar in Dresden als Dresdnerinnen, nicht etwa als MigrantIn­nen aus dem guatemaltekischen Hochland. «Schön» ist dieses Bekenntnis einer schönen Seele, ich bestätige es zum dritten Mal, aber etwa «tapfer» möchte ich es nicht nennen, denn in ebenso hoher Anzahl, wie die Artikel täglich erscheinen, nehmen wir also mal wie erwähnt an: zweihundert, fliegen JournalistInnen wie Maryline Baumard nach Guatemala oder meinetwegen auch in die Slums von Mumpitz und Kalkutta, lassen sich von den Schicksalen der unter Armut und den Nachteilen der Illegalität leidenden MigrantInnen-Jugendlichen bewegen und fliegen wieder nach Hause, wo sie bewegende Artikel schreiben über die gescheiterten Träume oder die geraubte Kindheit dieser armen, unschuldigen und reinen Wesen. Die Titel dieser zweihundert Artikel pro Tag kann man zusammenfassen in das Frage-Adverb «Warum?», das jeweils nach schlimmen Ereignissen auf Pappe-Tafeln aufgemalt und am Ort des schlimmen Ereignisses mitten in zwanzig Opferkerzen aufgestellt wird. Ja, genau: Warum eigentlich? Oder genauer: Was lässt sich denn dagegen unternehmen? Was kann ich tun, hier, aus meinem Ohrensessel heraus, in welchem ich morgens «Le Monde» lese?

Es besteht eine gewisse Chance, dass ich als Leser von «Le Monde» zusammen mit den anderen Leserinnen und Lesern von «Le Monde» anhand solcher Artikel zu einem Teil der öffentlichen Meinung werde, welcher sich um ein vertieftes Verständnis der Entwicklungen in Zentralamerika mindestens bemüht. Der mindestens etwas weiß vom anhaltenden Strom von indigenen Menschen aus ihren herkömmlichen Lebensräumen in die Städte, von den Ursachen, die ebensogut das Stre­ben nach einem besseren Leben sein können wie die Landnahme durch Großgrundbesitzer oder einfache Bauern oder ganz einfach staatliche Repression aufgrund welcher Kriterien auch immer, nachdem die revolutionären Bewegungen vor einem Vierteljahrhundert mehr oder weniger erlo­schen sind. Dieser Teil der öffentlichen Meinung weiß auch um die Probleme für die schlecht ausgestattete Verwaltung von Guatemala-Stadt bei der Erfassung und Verarbeitung der Neuzu­gän­ger, respektive: Selbstverständlich hat die Verwaltung keine Probleme damit, sie kümmert sich nämlich einfach nicht darum, auch wenn einzelne Beamtinnen und Beamte oder Abteilungs­lei­te­rin­nen dies noch möchten, was mit ein Grund dafür ist, dass auf den Straßen eine Rechtsordnung herrscht, die sehr nahe beim Faustrecht ist, von den anderen Fragen von Hygiene und Schulbildung noch gar nicht zu sprechen. Und dieser Teil der öffentlichen Meinung weiß auch, dass der anhal­tende Migrationsdruck den Druck bei den bereits Anwesenden erhöht, sich außerhalb von Guate­ma­la-Stadt nach besseren Lebensbedingungen umzusehen, weil sie in Guatamala-Stadt nämlich auf absehbare Zeit nicht realisierbar erscheinen, und das heißt in der Regel nicht weiter­reisen nach Osten nach El Salvador und Honduras, wo die öffentliche Meinung auf den Straßen von Guatemala-Stadt keine wesentlich besseren Perspektiven vermutet, sondern nach Westen und in den Norden nach Mexiko, weil von dort aus viele Straßen in die Vereinigten Staaten führen, falls der Fall eintreten sollte, dass man in Mexiko ungefähr gleich erwünscht wäre wie Nicht-Dresdner Migran­ten in Dresden oder falls man sich ganz einfach der Projektion hingäbe, dass in den Ver­einigten Staaten trotz Donald Duck alles viel besser sei als in Guatemala und in Mexiko zusam­men, was ja stimmt.
Als Mikro-Element, als Molekül des entsprechenden Teils der öffentlichen Meinung in Frankreich oder in Deutschland würde ich so aus meinem Ohrsessel heraus einen Anteil haben daran, dass Frankreich oder Deutschland bei der nächsten Budgetdebatte einen bestimmten Anteil der Gelder für internationale Zusammenarbeit in Dinge wie das Heim für obdachlose unbegleitete Migrant­Innen aus dem Landesinnern in Guatemala-Stadt fließen lässt, und die Frage: «Warum?» wäre damit in derart radikaler Art und Weise keiner Antwort zugeführt, dass ich mich in meinem Ohr­sessel angesichts meiner Ohnmacht in dieser Frage, und selbstverständlich in weiteren, um nicht zu sagen: in praktisch allen Fragen geradewegs erschießen könnte. Wobei ich den Eindruck habe, dass man sich in einem Ohrsessel nicht erschießt, wenn man Selbstmord begehen will; in einem Ohr­sessel kann man vielleicht versuchen, die Luft so lange anzuhalten, bis man erstickt, aber mehr Gewalt halte ich für übertrieben.

Warum nur, ja, warum. Das Unbegreifliche zu begreifen ist schwierig. Nein, es ist überhaupt nicht schwierig, es ist nur unmöglich. Gut begreife ich die Reaktion von Kindern und Jugendlichen, wenn sie am Ort von schlimmen Ereignissen Papptafeln aufstellen, auf welche sie mit Wasserfarben die große Frage «Warum?» gemalt haben. Erwachsene dagegen, wenn ihnen an der Wahrung der öffent­lichen Vernunft etwas liegt, müssten diese Tafeln entfernen und die Kinder und Jugendlichen mit behutsamen Worten darauf hinweisen, dass es für das Unerklärliche keine Erklärung und für das Unbegreifliche kein Begreifen gibt, weshalb es auch in Momenten der Trauer unanständig ist, mit einer solchen Frage zu unterstellen, es gäbe etwa eine Antwort. Antworten gibt es nur in Bezug auf Veränderung. Wie kann man in Guatemala-Stadt etwas verändern, damit es für Kinder eine Perspektive gibt? Und wie kann man etwas verändern in Mumbai oder in Kalkutta, damit es für Kinder eine Perspektive gibt? Auf diese Frage muss es Antworten geben, aber die entstehen nicht in meinem Sessel und bei der Lektüre von «Le Monde». Und das Aussenden von gut meinenden und mitfühlenden jungen RedaktorInnen in möglichst alle Armenviertel der Welt mit der Mission, uns in unseren Ohrsesseln über die zerstörten Träume und verlorenen Kindheiten von fünfhundert Millionen Menschen zu informieren, hat unglücklicherweise nichts zu tun mit der Erarbeitung von Lösungen und unglücklicherweise noch nicht mal damit, unser Verständnis für die Lage und für die jungen Menschen zu fördern.

Vielleicht treten solche Probleme für die Leserschaft von «Le Monde» aber demnächst sowieso zurück angesichts des bevorstehenden globalen Handelskrieges. Allerdings: Wie habe ich ihn mir vorzustellen, diesen Handelskrieg? Werden die Containerschiffe wieder mit Kanonen ausgerüstet wie im 17. Jahrhundert? Um Zölle scheint es zu gehen, die USA und China hauen diese in die Höhe auf ausgewählten Importprodukten des jeweiligen Handelspartners, wie es sich gehört. Aber hat so etwas Einfluss auf den Welthandel? In einigen Zeitungen habe ich Vergleiche gelesen über die Zölle, welche verschiedene Länder auf ihre Importe erheben, und da schnitten die USA zum Teil recht günstig ab. Doch darum geht es wohl nicht, denn die Handelspartner sind ja nicht die Länder, sondern die Unternehmen. Der Welthandel besteht nicht nur in einer globalen Konsum-, sondern in einer Produktionskette, und da werden die Unternehmen mit einiger Wahrscheinlichkeit zu ver­hin­dern wissen, dass ihre Abläufe unnötig verzerrt werden. Zu diesem Zweck führen die großen Fir­men unter anderem eine Buchhaltungs- und eine Rechtsabteilung. Da wird sich so schnell nichts ändern. Habt Ihr übrigens gewusst, dass der erste jener Norm-Container, welche heute die Grund­lage des internationalen Warentransportes bilden, in Deutschland im Jahr 1966 gelöscht wurde, und zwar im Hafen von Hamburg? Heute transportieren die großen Frachtschiffe Tausende, wo nicht Hunderttausende von diesen Behältern über die Weltmeere. Kürzlich las ich übrigens eine Studie des Hamburger Weltwirtschaftsinstitutes, welche behauptet, dass die globalen Transportvolumina min­destens im herkömmlichen Bereich ihren Zenith überschritten hätten, aus zwei Gründen: Zum einen wird immer mehr mit immateriellen Gütern gehandelt, so ein durchschnittliches Videospiel braucht nur noch selten eine Konsole, auf welcher es gespielt wird. Zum zweiten mache sich mit der Zeit auch der Einfluss von 3-D-Druckern bemerkbar, welche dazu führen, dass Ersatzteile in Zukunft direkt vor Ort ausgedruckt werden können anstelle der bisherigen Auslieferung ab Lager oder direkt vom Hersteller. Eine dritte Tendenz fällt mir selber auf, nämlich die, dass Großunternehmen schon seit längerer Zeit dazu neigen, von einem gewissen Handelsvolumen an die Produktion selber ins Abnehmerland zu verlagern. Die Kostenvorteile der Billiglohnländer, welche die Migration der Produktion in den neunziger und noch in den nuller Jahren bestimmte, haben offenbar in einigen Bereichen an Bedeutung verloren, vielleicht auch als Auswirkung des zunehmenden Einsatzes von Robotern, die zudem noch den Vorteil haben, dass sie mit einer kleinen Programmänderung leicht für neue Produktionsabläufe anzupassen sind. Mindestens bis sie selber aus der Mode kommen.

Es gibt für den Welthandel aber Hoffnung, nämlich in der Erschließung neuer Absatzmärkte, zunächst in den Schwellenländern, aber zunehmend auch in den ärmeren Ländern, wo das Potenzial für Wirtschaftswachstum am größten ist. Eigentlich bräuchte man dort bloß Kaufkraft hinein zu pumpen, ich glaube, das wäre der feuchte Traum nicht nur sämtlicher Entwicklungspolitikerinnen und -politiker, sondern auch von Nationalistinnen und Nationalisten, welche damit die Migration an der Quelle bekämpft sähen, vor allem aber der Wirtschaftsbosse. Heute steht doch nicht mehr die Ausbeutung der Arbeitskraft im Vordergrund, heute ist die wichtigste Problemstellung jene nach den Absatzmärkten. Und da wir nun seit 10 Jahren wissen, dass man Kaufkraft oder mindestens Geld praktisch nach Belieben über die Zentralbanken schöpfen kann, liegt es nahe, sich nach solchen Lösungen für die armen Länder umzusehen. Wenn da nur nicht die kleptokratischen Eliten wären, die schwachen Strukturen und all die Myriaden an anderen kleinen und großen Dingen, mit welchen sich die Entwicklungspolitik halt nun mal beschäftigen muss...




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Albert Jörimann
10.04.2018

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